Mit dem Bus kam ich am frühen Abend aus Samara an. Mein Bus, ein alter Ikarus, war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, die Beinfreiheit viel zu gering. Mit Zug anzureisen war nicht möglich. Kaum war ich ausgestiegen und dem Busfahrer gefolgt, um mein Gepäck zu bekommen, da rief mich schon mein Freund. Er war direkt von seiner Arbeitsstelle zum Busbahnhof gekommen. Auf dem Weg zu ihm benutzten wir einen Nahverkehrsbus. Rushhour. Aber die Fahrt dauerte nicht allzu lange. Zu Hause angekommen, gingen wir erst einmal in einen kleinen Laden in der Nähe einkaufen. Wieder zurück, erzählte er mir in der Küche beim Tee von seinem Arbeitstag und schlug vor, dass ich ihn am nächsten Tag zur Arbeit begleite.
Zu Besuch bei einer Erdölfirma
Das tat ich gerne. Ich war wirklich neugierig auf seine Firma Tatoilgas. Ein firmeneigener Bus holt die Mitarbeiter ab. Auf dem Gelände an der Uliza Tuchbatullina, das sehr gepflegt ist, steht in der Nähe des Eingangs eine Art Tränke für Pferde, mit Bürsten. Da wäscht man sich die Schuhe ab, bevor man in das Gebäude eintritt. Auch wenn die Stadt generell ziemlich sauber ist - in diesen Tagen hatte es Regen und Schnee gegeben. Da gab es auch viel Moder. So eine Schuhreinigungsrampe war mir zuvor noch nicht in Russland begegnet, sah ich später aber auch an einer Schule in Almetjewsk.
Der Pförtner im Tatoilgas-Hauptquartier warf einen Blick in meine Tasche, in dem sich mein Notebook befand. Wir gingen dann direkt in sein Zimmer. Kurze Zeit später traf seine Kollegin ein, auch Juristin. Ildar hatte für mich eine kleine Aufgabe, mit deren Lösung ich ihm auf meinem Notebook helfen konnte. Zum Mittagessen gingen wir in die Kantine im Keller des Gebäudes. Zu uns an den Tisch gesellte sich eine Geologin. Er ließ mich bei ihr und setzte sich an den Tisch seines Vorgesetzten. Währenddessen hatte ich eine erste Gelegenheit zur Konversation.
Beim Verlassen des Speiseraumes sagte mir Ildar diskret, wer dieser und jener Kollege war. Auf unserer Etage ging er mit mir gleich zu seinen Kolleginnen in einem größeren Raum. Hier war die Finanzbuchhaltung, wo sechs Damen saßen, Russinnen und Tatarinnen. Ich wurde am Fenster bei der Leiterin platziert und arbeitete weiter an der Aufgabe, die mir mein Freund vorhin gegeben hatte. Am Nachmittag brachte eine junge Mitarbeiterin, die Briefe zur Post getragen hatte und für die Firma bei der Bank war, Kuchen oder Waffeln mit und wir tranken alle Tee. Mein Freund hat nicht zu allen Kollegen in der Firma einen guten Draht. Aber hier im Raum ist er gern gesehen und ich als sein Freund war freundlich aufgenommen worden.
Ich kam auch am nächsten Tag mit zur Arbeit, wieder zur Finanzbuchhaltung. Die Frauen übergaben mir am Ende des zweiten Tages ein Andenken, einen Filofax-Kalender fürs neue Jahr von der Firma, einen Wandkalender der Firma mit Bildern von der Ölförderung und einen Kuli. Wir tauschten auch die E-Mail-Adresse aus und später grüßte ich sie aus Deutschland.
Nach dem ersten Arbeitstag zeigte Ildar mir Fotos, auch welche von Veranstaltungen mit seinen Arbeitskollegen. Später spielten wir eine Partie Schach. Dann kam sein Freund Juri vorbei, ein Autohändler. Ich erfuhr was über die Branche in Tatarstan. Er wollte am nächsten Morgen nach Nabereschnye Tschelny fahren, Ersatzteile besorgen. Naberejnye Tschelny ist eine Metropole am Fluss Kama, in der der LKW Kamas hergestellt wird. Mein Freund wollte, dass wir uns besser bekannt machen und dass ich deshalb mit Jura mitfahre. (Er hatte früher, vor meiner Reise, mal über Ildar anfragen lassen, was bestimmte Autoteile in Deutschland kosten; Reifen für PKWs, Beleuchtung. Ihn interessierte der Import aus Deutschland.) Ich war einverstanden, denn ich wollte was erleben und mein Russisch verbessern. So einigten wir uns, dass Ildars Freund mich mitnimmt, mich hier um 6 Uhr abholt.
Am nächsten Morgen stand ich um 5.15 Uhr auf. Da war mein Freund schon vom Frühsport im Wohnviertel zurückgekehrt und gewaschen. Doch sein Freund kam nicht, meldete sich auch nicht. Wir waren enttäuscht. Ich zog mich wieder um, für das Büro die besseren Sachen. Im zweiten Morgen-Bus der Firma war auch die schwarzlockige mit dem blauen Anorak drin, die ich schon auf einigen Seiten seiner Fotoalben gesehen hatte und die gestern abend auch im Nachhause-Bus war.
In seinem Bürozimmer angekommen, ging es zwischen uns um die Frage, wo ich sitzen und tippen würde: an dem kleinen Tisch an der Wand oder bei seinen Kolleginnen in der Finanzabteilung, bei denen ich mich gestern mit "Bis Morgen" verabschiedet hatte. Er ließ mir die Wahl, meinte aber, ich könne doch hier sitzen. Ich ging aber rüber und fragte die Kolleginnen, ob ich stören würde. Nein. Die Frau, die gestern fehlte, saß an dem Platz, an dem ich gestern gesessen hatte und dabei einige Leute zu einem Kommentar veranlasst hatte.
Ich bekam an der Wand mit dem Fenstern neben der Chefin der Abteilung einen Platz und tippte. Es gab am Vormittag häufiger Leute, die Rechnungen vorbei brachten und zu besprechen hatten. Sweta, die schwarzhaarige Tatarin, ging am späten Vormittag wieder zur Bank.
Ich wurde um 9.30 Uhr gefragt, ob ich mitkomme einen Tee zu trinken. Ich folgte den Frauen in die Kantine. Ich wählte einen süßen Kascha und ein Gebäck mit einem Teigklecks in der Mitte. Ich hätte bezahlt, aber die Frau von gestern am Tisch fragte mich was. Ich sagte, ich hätte keinen Ausweis und bin nur gestern und heute zu Gast. Dann, sagte sie, brauche ich nicht zu zahlen. Dann setzte ich mich zu einer Kollegin, an deren Tisch noch zwei Kollegen saßen. Diese Frühstückspause dauert eine halbe Stunde.
Zur Mittagspause kam Ildar rein und sagte, wir sollten essen gehen. Ich schaltete mein Notebook aus. Er sah es, ging raus. Ich folgte, aber sah ihn nicht mehr. Möglicherweise ist er noch schnell zur Toilette gegangen? Oder doch schon vorausgegangen zur Kantine. Dann gehe ich eben herunter. Unten in der Kantine war er nicht. So setzte ich mich beim Pförtner auf das blaue Ledersofa und wartete auf ihn.
Er kam aber nicht. Da kam Sweta vorbei und fragte, ob ich denn nicht essen gehe. So folgte ich ihr. Er war aber (immer noch) nicht in der Kantine. Mir gefiel das auch nicht, ohne ihn hier zu essen. Aber warum hat er auf mich nicht gewartet und war gleich wieder verschwunden, ohne zu sagen, wohin er geht? Ich sagte nun der Köchin, die Essen ausgab, dass sie mein Essen auf Ildar anrechnet und aß am Tisch mit Sweta. Dann beeilte ich mich aber wieder hochzukommen und ging in sein Büro. Seine Kollegin war auch da. Er hatte hier auf mich gewartet. Und machte mir Vorwürfe. Jetzt könnten seine Kollegen denken, zwischen uns gibt es Probleme, wenn wir nicht zusammen essen und ich auch nicht bei ihm Zimmer schreiben würde. Um diesen Glauben nicht zu verstärken, bot ich an, zurück zu ihm zu kommen mit dem Notebook. So gingen wir gemeinsam in die Finanzabteilung und ich holte mein Notebook und blieb dann bei ihm.
An diesem Erlebnis sieht man, wie konzentriert man als Gast sein muss, wie leicht es zu Missverständnissen kommen kann und wie leicht man sich unbeabsichtigt Ärger einhandeln kann. Wir Deutschen sind in bestimmten Dingen wohl direkter, entlasten uns damit nämlich insofern, als wir nicht soviel rätseln müssen, was andere von uns wollen, was als vereinbart gilt und was nicht. Dass mein Freund sich solche Gedanken machen würde, was seine Kolleginnen über ihn denken könnten, wenn ich nicht bei ihm im Zimmer säße, ist mir nicht in den Sinn gekommen, wo er mir doch die Wahl gelassen hatte. Mir war doch daran gelegen, Menschen kennen zu lernen.
Am Nachmittag sagte mein Freund dann, wir sind jetzt eingeladen. Wir gingen in die Finanzabteilung. Dort setzten wir uns um den Tisch der Chefin bei Tee und Süßem. Es wurde gescherzt...
Ich wurde von Sweta gefragt, wann es am besten ist, nach Deutschland zu reisen (So eine Frage hatte schon die Juristin in der IHK in Krasnodar vor einer guten Woche gestellt.). Ich sagte, im Februar sind die Hotels in Berlin am billigsten. Von der Frau, die gestern nicht da war, wurde ich gefragt, ob es in Deutschland viele ledige Männer gäbe. Ich bejahte. Besonders in Berlin gibt es viele Singles, hob ich hervor. Und man brauchte ja nur einen Zug nach Moskau und von dort aus einen Zug nach Berlin oder einen Billigflug nach Berlin. Ich dachte mir: na, vielleicht werde ich speziell den Russinnen reisen anbieten, auf denen sie Chancen bekommen, deutsche Männer kennen zu lernen. Ildar sagte mir aber später, dass bis auf Julia alle Frauen in diesem Raum verheiratet sind. Mir wurde Julia von ihren Kolleginnen interessant gemacht. Julia spielte mit, zeigte sich nicht offensichtlich abgeneigt. Gestern bin ich schon von diesen Frauen gefragt worden, ob ich gerne Billard spiele. Ich sagte, nicht gut. Und Bowling? Das würde wohl mehr Spaß machen, sagte ich.
Ich sagte, ich hätte eine Schwester, die eine Tochter hat, die ist 21. Und wie alt ist Julia? Sie sagte, sie ist 23. Ildar wollte schon aufstehen. Aber die Kolleginnen konnten ihn noch zum Sitzenbleiben bewegen. Als wir dann aufstanden, hielt mich die Chefin noch zurück und bei Sweta am Platz holte sie einen Beutel hervor, in dem sich ein Wandkalender befindet sowie ein Terminkalender und Kugelschreiber, alles Werbegeschenke der Firma. Mir wurde ein Kompliment gemacht, das ich erwiderte. Sie sagten, ich solle wieder kommen. Man könne mit ihnen gut arbeiten. Ich sagte, ich könnte mir ein Praktikum bei ihnen vorstellen. Aber mein letztes hatte ich voriges Jahr und als angehender Geschäftsmann würde ich keine Praktika mehr machen. Ich versprach, einige Fotos zuzusenden. Aber hier von uns Fotos zu machen, haben wir vergessen.
Ildar sagte im Büro, wir sindheute Abend von einer Frau eingeladen. Sie muss nur noch mit ihrer Familie sprechen und gibt ihm nachher noch Bescheid. Ich fragte, ist es eine Freundin von ihm oder eine Kollegin? Letzteres. Die Frau, die bei uns gestern Mittag am Tisch saß. Aha, die Geologin Olga. Es kam die Bestätigung und ich sagte natürlich zu. Heute am Freitag ist schon eine Stunde früher Schluss, weil morgen ein Feiertag ist. Mit dem Betriebsbus fuhren wir zurück, hatten noch etwas Zeit.
Zu Besuch bei der Familie einer Kollegin
Wir machten uns klar zum Losgehen. Die Kollegin, Olga heißt sie, wohnt etwas weiter entfernt und mit dem Bus kommt man nur mit Umsteigen dahin. Wir kauften noch eine Torte. Ich ließ es mir dieses Mal nicht nehmen mich daran zu beteiligen. Wir kamen über eine vor zwei Jahren neu gebaute Brücke. Rechterhand unter ihr zieht sich ein neues Parkgelände mit Teichen hin. Die Straßen auf unserem Weg waren sehr schmutzig, modrig, es fehlten meistens Gehwege, die zu gebrauchen waren.
Das Haus, in dem Olga mit Mann und Sohn lebt, befindet sich neben dem Schachklub. Die Wohnung war nicht ganz leicht zu finden, denn es gibt kaum Nummerierungen und Klingelschilder sowieso nicht. Wir wurden herzlich empfangen. Der Sohn heißt Sergej. Er ist Ökonom und arbeitet bei Tatneft, einer weiteren großen Erdölfirma in Almetjewsk.
Die Neubauwohnung hat einen langen sauberen Flur, im Wohnzimmer nahmen wir auf einer karamellfarbenen Ledercouch Platz.
Olga hatte Geflügelfleisch gebraten, es gab Bratkartoffeln und Rote Beete-Salat. Das war für einen Mitteleuropäer leicht verdaulich. Jedoch der Rotwein war nicht genießbar, war eher Essig. Aber dann wurde eine Flasche Weinbrand geöffnet.
Ich erzählte über den Palast der Republik in Berlin, seinem Abriss, den Sonderzug nach Pankow von Udo Lindenberg und meiner Begegnung mit korrupten Milizionären im Zug vor wenigen Tagen. Sergej spielte auf meine Bitte zwei-drei Stücke auf dem Klavier, das die Wohnstube zierte. Ja, und dann verabschiedeten wir uns auch schon bald wieder.
Lange haben wir auf den O-Bus gewartet, der aber doch nicht kam. Ab 23 Uhr fährt kein Bus mehr. Also zu Fuß den Weg zurück nach Hause. Zum Glück war Wochenende.
Stadtbummel
Samstag. Nach dem Frühstück spielen wir auf seinen Vorschlag eine Partie Schach. Dieses Mal gewinne ich mit Schwarz (Sizilianisch, 1.e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 e6 4. Lxc6 bxc6 5. 0-0 d5). Dann, kurz nach 10 Uhr gehen wir raus; mein Freund zeigt mir seine Heimatstadt.
Kulturpalast, ein Hotel, angemalt wie ein Zimmer mit moderner Tapete (ohne Besichtigung von Zimmern), Teiche, die Moschee, Juri-Gagarin-Straße, das Dramatische Theater, Memorial (Gedenkstätte für die im zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten), ein altmodischer Vergnügungspark für die Familie, Markt mit Kaufhaus. Hier im Kaufhaus kaufte er für mich ein Geschenk: gleich zwei tatarische Mützen. Man nennt sie Tjubetejka. Sie haben die Form eines flachen Topfes für die kleine Herdplatte meines Cerankochfeldes, sie besteht aus Samt, besetzt mit kleinen Perlen, Strass, Metallschmuck. Die schwarze schenkte ich meinem Vater, die dunkelgrüne behielt ich selbst.
Ich wollte meinem Freund und seiner Mutter einen grünen Salat anrichten und wir gingen in die Halle mit den Gemüse- und Obsthändlern. Plötzlich rief ein Mann: "Hände hoch!" Wir waren gemeint. Er hatte mitbekommen, dass mein Freund und ich mich in deutsch unterhielten. Ich fragte, ob es hier irgendwo Filzstiefel zu kaufen gibt, die berühmten Walenki. Die hielten die Beine der sowjetischen Soldaten im kalten Kriegswinter wärmer als die Beine der Wehrmachtssoldaten waren. Ja. Wir finden draußen den Stand. Der Verkäufer ist ein älterer Mann aus Naberejnye Tschelnij.
Er hat Walenkis aus dem Werk, von dem Jura vorgestern sprach und auch solche, die privat hergestellt wurden, in den Farben schwarz und weiß. Bei Kinderstiefeln hat er auch welche mit Gummisohle. Ich probiere zwei Paare an. Das Gefühl ist nicht sehr komfortabel. Der Filz passt sich aber mit der Zeit der Fußform an.
Ob ich wohl den Betrieb besichtigen könnte? Das bejaht er, aber er fährt erst Ende nächster Woche wieder dorthin. Das ist für mich leider zu spät.
Nicht für mich nehme ich welche, aber für den 5-jährigen Sohn meines Freundes in Dresden, schwarze mit Gummisohle. Die kosten 300 Rubel. In meiner Größe würden sie 350 Rubel bei dem Mann kosten. Wenn man auf dem Lande wohnt, sind Stiefel ohne die Gummisohle wohl besser. Und wie lange sie halten, frage ich. Etwa 5 Jahre.
Der Mann heißt Josif Nikolaewitsch. Er schreibt seine Adresse und Telefonnummer auf einen Zettel. Ich freue mich, eine Quelle aufgetan zu haben.
Zu den Walenkis bekommt der Sohn meines Freundes in Deutschland gleich noch ein paar gestrickte dicke bunte Socken, die es am benachbarten Stand gibt.
Nach der Rückkehr trinken wir Tee und essen ein Gebäck, das zylinderförmig aussieht und süß ist - Honig. Das ist Baursak. Ich schreibe dann wieder Tagebuch.
Nach dem Abendbrot fühle ich mich so gesättigt, dass ich keine Lust zum Schreiben habe, sondern mich zu bewegen. Ildar kommt mit raus, auch natürlich, um auf mich aufzupassen. Er warnt: In der Dunkelheit sollte man nicht mehr draußen spazieren gehen. Es gibt Spanner und Hooligans. Unter Spannern versteht er nicht die Leute, die (nur) neugierig Einblick ins Privatleben nehmen, sondern Gruppen von zumeist Jugendlichen, die auf der Straße herumlungern und gewaltbereit sind. Es muss nichts passieren, wenn man so eine Gruppe passiert. Denn es kann sein, dass sie gerade mit einem anderen Thema beschäftigt sind, dass sie interessiert. Aber wenn man ungewöhnlich gekleidet ist, könnten die Halbstarken aufmerksam werden und sich denken: Das ist ein dummer Ausländer: zeigt, dass er Ausländer ist - und knöpfen sich mir vor.
Schon am nächsten Hauseingang sitzt eine Gruppe jugendlicher Jungen am Eingang.
Ildar und ich machen einen Rundgang. Die Stadtgrenze befindet sich gleich in der Nähe. Da beginnt gleich ein Dorf. Wir kommen an ein Haus, das voriges Jahr von einer Firma gebaut wurde und nicht fertig wurde. Die Firma ist insolvent geworden und keiner kümmerte sich um das Haus mit vielleicht sechs Stöcken. Dann kamen Leute und holten sich schon eingebaute Teile heraus.
Trotz der Gefahren, im Dunkeln bedroht und beraubt zu werden, sei Tatarstan doch die sicherste Republik in Russland, meint Ildar. Ich sage aber, ich glaube, die Gegend um Sotschi ist in der Dunkelheit nicht unsicherer. Andernfalls würde es erhebliche Einbrüche bei den Touristenzahlen geben und die Einnahmen sinken, die man mit dem Touristengeschäft am Schwarzen Meer macht.
Wir sind auch bei diesem Spaziergang müde, wie schon den ganzen Tag. Wir kommen zurück in die Wohnung. Die Mutter schaut Fernsehen, eine Wettbewerbssendung im Tatarischen Fernsehen, ein Singwettbewerb. Die Zuschauer schunkeln lächelnd mit. Das sieht so unecht, so gestellt (oder: bestellt) aus, dass es für mich schon komisch ist.
Sport und Erholung werden von den Erdölfirmen auch gefördert
Sonntag. Um 9.30 Uhr meldet sich der Schwager von Ildar, Radik. Er kam gerade von der Nachtschicht. Er ist Wachmann. In einer halben Stunde wird er bei uns sein, um uns mit seinem Lada zu fahren. Wir fahren dann mit seinem Lada zu den Bergen am Rande der Stadt. Dort befinden sich eine Pferderennbahn mit Pferdesportschule und daneben ein Stadion für Volksfeste.
Daneben befindet sich eine Treppe zu einem Aussichtspunkt, den wir besuchen und von dem aus ich die Stadt im Ganzen fotografierte.
Die Bergkette In der Nähe von Almetjewsk hat Berge bis zu einer Höhe von vielleicht 300 Metern. Hier gibt es ein noch ziemlich neues Wintersportzentrum (gornolyjnij komplex=Bergskizentrum) mit einem gemütlichen, neuen Hotel, das jetzt seine sechste Wintersaison erlebt.
Es steht direkt im Scheitelpunkt dreier Skiabfahrtsstrecken, die während meines Besuches im November für die nächste Saison vorbereitet wurden. Auch Skilanglauf ist gut möglich.
Der stellvertretende Direktor des Skihotels Jan, Sergej Iwanowisch, führte meinen Freund und mich durch sein Haus, das mit finanziellen Mitteln einer der großen Erdölfirmen in Almetjewsk erbaut worden war, Tatneft. Ausländer waren hier bisher noch nichtzu Gast. Ich war der Erste. Ich bin beeindruckt. Es gibt drei Etagen, jeweils in drei Farben: hellblau, rosa und grün. Insgesamt gibt es 69 Plätze, erzählt der stellvertretende Direktor, 19 seien derzeit belegt.
Wir sehen uns die Sportgeräteausgabe (im Foyer) an, mit 4 Ausgabeplätzen. Es gibt Ski in verschiedenen Größen, Snowboards, Skistöcke, Helme, Knieschützer, Bindungen für Ski und Snowboard, Schuhe und Stiefel. Wir bekommen weiter das Foyer am zweiten Eingang zu sehen mit Garderobe, eine Kneipe mit Bar, wo man auch Schaschlik und Pilaw (im Kessel) zubereiten kann, das Restaurant mit kleiner Bühne und Kamin, an das oben zwei Billardräume angeschlossen sind (einer mit einem Tisch, einer mit drei Tischen).
Alles ist ansprechend möbliert, entspricht europäischem Niveau.
Unser Führer durch die Räumlichkeiten spricht nicht englisch oder deutsch, kann auch nicht garantieren, dass Mitarbeiter des Hauses englisch sprechen. Wenn man sich um Sterne bemühte, würde man die sicher bekommen, ist sich unser Stellvertretender Direktor sicher. Das Hotel ist speziell im Winter interessant. Wir gehen durch das Treppenhaus in die erste und zweite Etage. Zuerst zeigt er uns ein Luxusappartment, danach Polulux, danach Standard. - Es fehlen jeweils noch ein paar Möbel, z.b. ein Hocker für den Schminktisch, Bilder an den Wänden, eine Kommode. Das einzige, was nicht passt, ist wieder mal der frei stehende, weiße Kühlschrank.
Das Haus gefällt mir, ich bin ja einiges von russischen Hotels gewohnt...
Neben diesem Skisportzentrum gibt es im gleichen Ort auch Sanatorien, die sich an Heilquellen befinden. Auch dieses ist von Tatneft finanziert worden. Auf eine spontane Besichtigung war man dort aber nicht vorbereitet. Der Schwager meines Freundes bekam auf seine Frage hin eine Absage.
Sehr engagiert zeigte sich der Hauptarchitekt der Stadt Almetjewsk, Almas Achtmarowitsch Idrisow.
Mein Freund und ich trafen ihn zusammen mit dem eben erwähnten stellvertretenden Hoteldirektor vor dem Hotel Jan an, als wir dort ankamen. D.h. er erkannte meinen Freund, der mit ihm einmal über seine Arbeit als Jurist zusammen arbeitete. Der Vorsitzende der IHK in Almetjewsk ist Almas Achtjamowitschs Freund, sagte der Stadtarchitekt. Er erklärte sich gern bereit, beim Kontakt zur örtlichen IHK zu helfen. Aber erst, nachdem wir seiner Einladung in sein Atelier am gleichen Tag (Sonntag) folgten, wo er uns zeigte, wie er die Stadt in den letzten Jahren schon gestaltet hat, und zwar nach einem Konzept, das man in Deutschland als Flächennutzungsplan kennt.
Der vielfach staatlich ausgezeichnete Architekt, seit 1999 Stadtarchitekt in Almetjewsk, interessierte sich sehr für westeuropäische Städtearchitektur, war kurz zuvor in Prag zu Gast gewesen und zeigte uns Zeichnungen, die er währenddessen dort gefertigt hatte. Auch während seiner Reise in Griechenland ein paar Monate vorher hatte er gezeichnet. Der heute fast 60-Jährige kann nicht nur ausgezeichnet zeichnen; er ist auch ein begabter Maler, der schon oft seine Bilder in Ausstellungen präsentiert hat, auch im Ausland. In einer Schule in Almetjewsk gab es gerade eine Ausstellung mit den Zeichnungen und Gemälden von ihm und seinem Sohn, die im August eröffnet worden war (und eigentlich nur bis 30. September dauern sollte). Er fuhr mit uns von seinem Atelier aus in diese Schule und wir konnten uns selbst überzeugen. Währenddessen wir uns die Ausstellung ansahen, hatte er zwei Kameras umgehängt und wir hatten uns gegenseitig fotografiert.
In der Ausgabe 1/2009 der Firmen-Zeitschrift der Sberbank "Westnik" fand ich einen Artikel über eine Fotoausstellung von Idrisow in einem Raum der Sberbank in Almetjewsk unter dem Motto "Unsere Stadt - heute und morgen". Die Bilder sollten dokumentieren, dass Almetjewsk eine der lebenswertesten Städte der Russischen Föderation ist. An einen entsprechenden Wettbewerb hatte die Stadt 2007 teilgenommen und gewonnen.
Dieses kleine Beispiel zeigt, wie leicht man in der russischen Provinz offene Türen einrennen kann, dort, wo nur wenige Westeuropäer hinkommen. - Nein, im Ernst, es lag an dem außerordentlichen Engagement und der Heimatliebe des Architekten und für mich reiner Zufall.
Das Schachturnier am Tag der tatarischen Verfassung
Der 6. November ist in Tatarstan ein Nationalfeiertag. Mein Freund zeigte mir seine Stadt.
Wir hatten uns gerade das Hotel Neftjannik (Erdölarbeiter) angesehen. Das war vor 13 Jahren von Jugoslawen gebaut worden. Kürzlich ist es von Geschäftsleuten aus Moskau übernommen und in eine Hotelkette eingefügt worden. Es liegt nicht ganz so zentral wie das große Hotel am Platz der Erdölarbeiter, welches eine neue, rote Fassade mit modernen Streifen bekommen hatte, aber mit Sicherheit ist es komfortabler. Hotel Neftjanik war zu der Zeit meines Besuches die offiziell beste Adresse für Touristen. Ein hochklassiges Hotel gab es nicht in Almetjewsk.
Am Vormittag hatten wir noch mal mit dem Stadtarchitekten verbracht, hatten mit ihm das Reitsportzentrum besucht. Wir hatten Zeit, kamen zum Schachklub, äußerlich leicht erkennbar an dem Schachbrettmuster und dem Turmsymbol. Wir hatten zu Hause schon zwei Partien ohne Uhr gespielt, jeder hatte einmal gewonnen. Der Eingang des Hauses war geöffnet, im Flur standen Männer herum. Ich war neugierig. Wir gingen rein. Wir fielen gleich auf, zumal ich meine knallrote Jacke angezogen hatte. Also stellte mein Freund uns vor. Ich weiß nicht mehr, woher mein Freund so gut Schach spielen konnte. Aber hier im Hause hatte er nicht trainiert, war selbst nie hier gewesen. Der Schachklub gehört dem größten Ölförderunternehmen in Almetjewsk. Er ist im Mai 2005 eröffnet worden. Wir wurden in einen Raum geleitet, in dem ein paar Männer versammelt waren. An zwei, drei Tischen wurde geblitzt, das heißt Schach mit Uhr gespielt, wobei jeder 5 Minuten Zeit bekommt.
Die Schachuhr besteht aus zwei Uhren, über jeder befindet sich ein Knopf, bei dessen Drücken die eigene Uhr stehen bleibt und die andere Uhr in Gang gesetzt wird. Weil jede Sekunde zählen kann, wird beim Blitzen ganz schön mit der Hand auf die Knöpfe gehauen. Die mechanische Schachuhr ist daher sehr robust gebaut worden. Inzwischen haben im internationalen Turnierschach elektronische Schachuhren Einzug gehalten, siehe mein Artikel zur Schacholympiade in Dresden.
Der Mann mit dem Kugelschreiber am Tisch mit der Turniertabelle trug unsere Namen in die Tabelle ein. Wir spielten mit. Um halbdrei ging es los. Jeder Teilnehmer zahlte (nur) 10 Rubel für die Teilnahme. Ich als deutscher Gast aber nicht. Der Gewinner sollte 50 Rubel bekommen, der Zweite 40 Rubel und der Dritte noch 30 Rubel. Schon lange hatte ich nicht mehr an einem Blitzschachturnier teilgenommen. Unter den Teilnehmern hier gab es einen FIDE-Meister (FM), einen Meister und mehrere Meisteranwärter sowie Spieler der Leistungsklassen 1und 2. Völlig außer Training hoffte ich darauf, das eine oder andere Pünktchen zu erobern. Ein paar Mal war ich nah dran. Aber ich hatte regelmäßig die schlechtere Zeit und meine Gegner retteten sich über die Zeit. Gegen meinen Freund gewann ich; bevor mein Blättchen in Gewinnstellung fiel, fiel seines. Doch er meldete dem Schiedsrichter und Turnierleiter ein Remis. Da spielte bei ihm wohl der Stolz oder die Scham mit. Als Freunde waren wir gekommen und da war es wohl ehrenhaft, das unsere Partie unentschieden enden musste - Wäre für mich eine "1" in die Turniertabelle eingetragen worden, wäre ich nicht alleiniger Letzter geworden. Mein Freund schaffte nämlich noch einen Sieg ...
Nach dem Turnier wurde uns das Haus gezeigt, die Übungsräume für die Kinder und Jugendlichen. Der Verein hat 60 starke Spieler vom FIDE-Meister bis Leistungsklasse 1, stärkste Nennwertzahl eines Spielers liegt bei 2380 Punkten. Es gibt Mannschaftsbetriebsmeisterschaften von Tatneft. Zu einer Mannschaft gehören zwei Männer und eine Frau. Ein Junge stand im Flur - eines der Talente. Mir wurde angeboten, gegen ihn zu spielen, er war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ich sagte, lieber nicht, ich will mich nicht blamieren. Mir reichten die Verluste im Blitzturnier. Der Vereinsdirektor Wladimir Kowaljow (Meisteranwärter) hat ein Direktorzimmer mit Computer und Internetanschluss und kann im Internet gleich Schachdatenbanken abfragen. Das Haus gefiel mir sehr gut.
Tatarisches Essen
Es war dunkel. Die Mutter meines Freundes begrüßte uns mit einem tatarischen Nationalgericht: Ischtsch Poschtschmak: dreieckige Piroggen (Teigtaschen), die oben ein Loch haben, durch das ich die Füllung sah: Kartoffeln, Rindfleisch-Gehacktes und Zwiebeln.
Eine Suppe hatte die Mutter auch noch gekocht: Tukmatschlyj Aschyj. Das ist eine Nudelbrühe mit weißen Fadennudeln mit etwas Hähnchenfleisch, Kartoffeln in kurzen Streifen geschnitten und Zwiebeln.
Weil wir schon bei tatarischen Gerichten sind: Ich bekam während der Tage auch Bjalisch - Reis, Kürbis, Teiggebäck, das im Ofen gebacken wird und Wag Bjalisch - Piroggen, die mit Hackfleisch gefüllt sind.
Kyistyibyij - aus Kartoffelmus mit Ei gemachter Teig wird auf der Pfanne zu Pfannkuchen geformt.
Zum Tee isst man auch Baursak (Teigwaren, wie kleine Zylinder, mit etwas Honig außen).