Sonnig und heiter ist es bis zum Nachmittag. Die Bewölkung nimmt zu, aber Regen fällt nicht. Bis Mittag war es ein schönes Fahren. Zuerst auf ruhiger Straße, mit Sumpf am Straßenrand und einem See (Foto in der Galerie). Dann kurz wieder an der Wolga entlang, danach vorbei an dem riesigen Elektrizitätswerk, von dem wir gestern beim Baden in der Wolga schon die Schornsteine gesehen hatten.
Als wir hinter dem Werk an einer Straßenbiegung warteten, bis alle zusammen waren, zeigte Diane, wie ihre Knie geschwollen sind. Sie schmerzten sie.
Priwolschsk
Um kurz vor 11 Uhr erreichten wir die Stadt Priwolschsk im Iwanowo-Bezirk und wenige Minuten später erreichten wir die Schmuckfabrik "Krasnaja Presnja" in der Uliza fabritschnaja 10.
Wir stellten unsere Fahrräder in Ständer auf einem Fahrradparkplatz des Betriebs. Hier gibt es viele Mitarbeiter, die das Fahrrad benutzen (Fotos in Galerie).
Die Führung begann im dreistöckigen Gebäude im Erdgeschoss, wo sich der Ausstellungsraum mit den hier hergestellten Prachtstücken befindet. Der Betrieb hat eine lange Tradition, besteht schon über 70 Jahre. Im Großen Vaterländischen Krieg, wie der 2. Weltkrieg in Russland genannt wird, wurden anstatt Schmuck Knöpfe und Sterne für Soldatenuniformen hergestellt. Aber nach dem Krieg stellte man wieder Schmuck und Dekorteile her. Die Palette des Betriebs umfasst über 6.000 verschiedene Schmuckstücke, vor allem aus Glas und Silber. Auch Silberbesteck, Teller, Krüge; alles zu sehen im Betriebsladen nebenan.
Was bedeutet der Betriebsname? Presnja ist ein Stadtteil in Moskau, wo Proletarier gegen den Zaren demonstriert haben, erklärte mir jetzt eine Freundin. Das ist also ein kommunistischer Begriff. Krasnaja meint hier also die Farbe Rot und nicht das Attribut "schön". Die Website des Betriebs ist auch blutrot.
Nach dem Vortrag im Ausstellungsraum, in dem die Schmuckteile geordnet nach Jahrzehnten in verschiedenen Vitrinen gezeigt werden, gingen wir durch die Flure zu den Arbeitsplätzen der Mitarbeiter. Überwiegend arbeiten hier Frauen. Wir konnten ihnen buchstäblich über die Schulter schauen.
Manche hantierten auch mit einem Brenner, um Metall zu schmelzen oder Teile zu löten. Es standen viele Ventilatoren im Raum und ein großer Kühlschrank. Die Atmosphäre war relativ entspannt, ich sah auch mal einen Snack bei jemandem auf dem Tisch liegen. Gut vorstellbar, dass es hier Gleitzeitarbeit gibt.
Dann war es 12 Uhr und wir bekamen Mittag in der Kantine. Leider hatte ich Pech mit der Fleischsoße. Das Fleisch war leider Leber. Leber vertrage ich aber nicht. Deswegen musste ich den Teller zurückbringen und bekam, mit Wladimirs Hilfe, anderes Essen. Was ich aß, siehe Foto (noch mit Fleischsoße mit Leber). Die grüne Suppe war gut. Das ist eine typische Sommersuppe, die kalt gegessen wird. Man nennt sie Okroschka.
Kaum haben wir die Kantine verlassen, kam Bauchschmerzen. Ich musste zur Toilette. Es gab zwei Stehklos, in der Art wie Pferdeboxen (wenn man steht, kann man den Nachbarn angucken), im miesen Zustand, großer Andrang von unserer Gruppe. Das Toilettenpapier war von der billigsten Sorte, einfach, dünn. Ich hatte das Gefühl, den Betrieb aufzuhalten. Unangenehme Situation – unzureichende hygienische Bedingungen. Das Gebäude ist alt, außen hat es eine relativ neue Front, die über das Alter hinwegtäuscht. Da hat man einen Ausstellungsraum, in dem man Gästen, sicher auch Geschäftspartnern die vielen Schmuckstücke zeigt, und dann missachtet die Betriebsleitung hier das Grundbedürfnis der eigenen Mitarbeiter nach Reinlichkeit. Guten Tag im Sozialismus.
Im Nachbargebäude gibt es den Betriebsladen. Nicht alle von uns gingen da rein. Es gab ein paar, die was Kleines gekauft haben, z.B. ein versilbertes Kreutz für eine Halskette.
Wir verließen die Kleinstadt auf einer Nebenstraße, die dann mehr ein Feldweg war. Die Landschaft war schön. Wir sahen einen Wasserspeicher, wo drei Jungen auf der Mauer des gefüllten Speichers saßen. Die Straße wurde zur Schotterstraße. Nach der Reise versuchte ich die Route nachzuvollziehen: wahrscheinlich durch die Dörfer Blaginino, dann Fedorischtsche, dann Annenskoje (Kreuzung), gerade über die Kreuzung dann schließlich Rojdestweno (wenn man das übersetzt, kommt so etwas wie "Weihnacht" heraus.).
Von Priwolschsk aus erreichten nach etwa einer Stunde das Dorf Rojdenstweno. Ich habe die marode Kirche fotografiert. Wir legten hier einen Stopp ein. Im Dorf war gerade der LKW aus der Stadt da, brachte Brot und hier traf sich deswegen das halbe Dorf, um sich mit den frischen Lebensmitteln zu versorgen. Ich kaufte eine 1,5-Liter-Flasche mit Limonade, kleinere Flaschen gab es im Kiosk nicht am Platze, wo sich ein Soldatendenkmal befindet.
Kurz vorher haben wir einen Kanal Wolga – Uwdj überquert. Weiter von Rojdestweno vermutlich über Sarajewo, Isajewo, Ignatowskoje. Genau weiß ich es nicht, irgendwelche kleinen Straßen östlich der A 113.
Diane blieb mit Schmerzen nicht alleine. Nick hatte heute starke Schmerzen, ganz woanders. Er stieg mindestens zweimal vom Rad und lag gekrümmt im Gras am Straßenrand. Gallensteine! Das war kaum mit anzusehen, wie er litt. Beim 2. Anfall ließ er sich letztlich doch in den LKW von Andrej bringen, aber erst nach langem Zureden von uns.
Als wir nicht mal einen Kilometer weiterfuhren, hatten wir von der Straße zwischen Feldern aus einen Blick auf fünf Kirchen, eine davon in einem Kloster. Da kam ein großer LKW mit dem Namen eines Spaniers auf einem Schild hinter der Frontscheibe im Fahrerhaus und mehr Zeichen, dass der LKW aus Spanien kommt. Ian wunderte sich, ich auch. Gestohlen?
Wir fuhren heute lange auf der Schotterstraße, mit Bodenwellen, Unebenheiten. Trotzdem gab es daran was gutes: kaum Autos und weit und breit Landschaft. Um 18.19 Uhr erreichten wir Dunilowo, wo wir am anderen Ende eine Kirche mit schon restaurierten kleinen weißen Zwiebeltürmchen und dem Hauptturm, der noch zu restaurieren war.
Am Anfang des Ortes überquerten wir den Fluss Tesa.
Von Dunilowo aus fuhren wir noch etwa eine Dreiviertelstunde auf einer wenig befahrenen Straße durch Wald. An einer Abzweigung mit Holzschild „Datscha Bor“ warteten wir, sammelten uns. Das dauerte eine Weile, Unsicherheit, wer schon weiter gefahren war, wer noch fehlte.
Ferienhaus und -lager Datscha Bor
Datscha Bor befindet sich nördlich von Schuja. Dieser Ort zwischen Wald und dem Fluss Tesa hat etwas Gespenstisches an sich. Das liegt einmal an dieser alten Villa mit Holzbretter, die grün gestrichen sind und dem Licht des frühen Abends. Aber auch morgens, als ich als erster auf dem Gelände umherlief und Fotos machte. Danndieser merkwürdige unangenehme Geruch. Dann die Geisterfiguren aus Holz an der Hecke und die Bungalows, in denen die Kasachen wohnten, die das Gelände zu bewachen hatten. Im Gesellschaftsraum des Hause hängen Schwarz-Weiß- Fotos aus den Zwangigern des vorigen Jahrhunderts, also aus der Zeit kurz nach Errichtung dieser Villa.
Unsere Betreuer gingen erst mal, nachdem die Zimmer verteilt waren, im Fluss schwimmen. Dimitri rief, das Wasser sei gut und auch klar. Ich sah auch Fische, als ich am Steg war. Aber von der Reinheit des Wassers waren einige Frauen in unserer Gruppe nicht zu überzeugen und verzichteten auf das Bad bei den Fischen.
Im Barraum (oder vielleicht war das früher der Raucherraum) hängen auf der Fensterseite Hirschgeweihe an der Wand, die eine grün-weiß gestreifte Tapete und grüne Gardinenvorhänge hat. Auf der den Fenstern gegenüber liegenden Seite hängt ein ausgestopfter Wildschweinkopf. Ein Wasserleitungsrohr führt über der Tapete entlang zum Kühlschrank. Der Teppich ist auch grün. Der leere Getränkekühlschrank passt nicht zu der dunkelbraunen Theke hier, auch nicht zwei runde billige Couchtische aus Sperrholz. Neben der Eingangstür hat man mit einer gelben Stecknadel ein A4-Blatt an die schöne Tapete gepinnt, auf der die Essenzeiten für das Gasthaus „Datscha Bor“ stehen: Morgens 8.30 Uhr – 11.00 Uhr, Mittag 12.00 bis 15.00 Uhr, Abendbrot von 18.00 bis 20.00 Uhr.
Der krasse Unterschied von alten Luxusmöbeln und Jagdtrophäen auf der einen Seite, und billigsten Möbeln oder alten Ledersesseln und Lenoliumboden war auffällig. Aber der Investor fährt einen amerikanischen Hummer... Sinn für Harmony der Einrichtung fehlt ihm anscheinend.
Eine von den drei Frauen hier, die am Eingang des Hauses gestanden hatten, als wir ankamen, blieb noch, bis nach dem Abendessen. Swetlana machte das Meiste, wieder ihr bewährter Salat, mit Gurken, Tomaten, Paprika, Gewürzen, den es zu einer Schüssel mit Pilaw gab und einer Schüssel Soljanka dazu Orangensaft.
Ich saß draußen auf einer Schaukel, die mit rotem Tuch bedeckt war, und nutzte das letzte Tageslicht zum Schreiben, von Mücken geplagt. Ein älterer Mann mit sonnengegerbtem Gesicht in Begleitung eines etwa 16-jährigen Jungen kamen vorbei, Leute, die sich hier um die Pferde kümmern und das Grundstück bewachen, sogenannte Ochanniks. Neugier. Wir unterhielten uns. Er und weitere Männer hatten vorhin die Pferde von der Koppel am Fluss, die etwas tiefer liegt als unser Platz (2-3 Meter) an uns vorbei zu den Bungalows mit Wellasbestdach getrieben, wo ein Holzzaun war, als Begrenzung für die Pferde. Bei denen war Tracy auch gewesen und hat zu ihnen gesprochen, mit den Jungens unserer amerikanischen Familie. Hier liegt ein Haufen Schrott rum. Und ein Buswartehäusschen mit Bushaltestellenschild steht hier. Aber hier gibt es keine Straße, kein Bus hält hier.
Der alte Mann antwortete auf meine Frage, dass hier keine Kinder zum Erholen mehr her kommen Aber es gibt Hochzeitsfeiern, Betriebsfeiern im Winter, mit Eisbaden und Sauna. Ich erzählte ihm, was für eine Gruppe wir waren. Er ist aus Kasachstan, wie auch seine anderen Männer hier, die für den Grundstückseigentümer arbeiten. Sie wohnen jetzt im nächsten Ort, in Schuja. (Da kamen wir am nächsten Tag durch.).
Den schwarzen Hummer des Eigentümers sah ich am nächsten Morgen.
Ein abgeschiedener Ort, an dem man verbotene Sachen machen kann, denke ich bei mir. Die Mücken stören einen unbeschwerten Aufenthalt im Freien. Also nicht besonders komfortabel. Nichts für ausländische Touristen. Für die Reise empfehle ich als Lesestoff russische Literatur aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, oder von davor, Novellen von Turgenjew zum Beispiel.