Die Kundin möchte die von ihr hier vor wenigen Tagen gekauften Hausschuhe zurückgeben und ihr Geld zurück. Die Hausschuhe werden immer weiter. Stattdessen möchte sie sich andere hier kaufen. Unser Verkäufer sieht sich die Pantoffeln an und lehnt ab. Ja, sie sind ja schon getragen. Es gibt deutliche Spuren. Sie sind auch schmutzig. Die könne er nicht mehr verkaufen. Wenn sie ungetragen wären, würde er sie zurücknehmen. Sie habe sich diese Schuhe ausgesucht und probegetragen. Mangelhaft sind sie nicht. Die Frau findet sich damit ab und meint, naja, eben nicht. Jedenfalls brauche sie andere Hausschuhe (, die sie hier auch suchen möchte). Ihr Ehemann jedoch ist grantig und sagt, nein, bei diesem Verkäufer hier werden wir keine Hausschuhe mehr kaufen. - "Dann noch einen schönen guten Tag!" wünscht Ihnen zum Abschied unser Verkäufer.
Wir beide unterhalten uns weiter. Ich knüpfe an das eben Passierte an und zeige Verständnis. Wenn sie hohe Qualitätsansprüche habe, müsse sie eben bereit sein, entsprechend mehr auszugeben. Klar geben solche Hausschuhe mit Schaffell innen nach. Er sagt, diese Schuhe waren unten schon schwarz, seien draußen getragen worden. Und den Schuhkarton hatte sie auch nicht dabei. Außerdem war sie wirklich eine anstrengende Kundin, als sie sich diese Schuhe aussuchte. Ihr Mann meinte eben, er könne sie ja herabgesetzt als gebraucht verkaufen ... Ich muss schmunzeln: Dieser Schuhladen als Gebrauchtschuhverkäufer schon mal verkaufter Schuhe, die Kunden unter Vollerstattung des Kaufbetrages zurückgegeben haben. Einen umfangreichen Service mit Rückgabe der Bekleidung bietet ja Lands End (USA) und das funktioniere, auch wenn die Bekleidung von einigen Kunden gegen Ersatz eines gleichen Bekleidungsstücks voll abgetragen zurückgegeben werde. Die Bekleidung habe aber auch ihren Preis, meint er. Aber so eine Strategie für einen Schuheinzelhändler?
Wer kennt und hasst nicht diese Falten oben auf dem Schuh, die durch das Abrollen des Fußes entstehen. Schneller noch durch mangelnde Pflege, fehlende Creme? - Wir kommen auf Qualität zu sprechen und auf die Hersteller, während ich einen schwarzen Schuh der Marke NB anprobiere. Dahinter steckt wohl Rohde, meint er. Ja, kenne ich, hatte von Rohde schon bequeme leichte Schuhe, unverwüstlich, immer noch im Einsatz.
Rohde ist aber inzwischen insolvent, sagt er. Gegen den Geschäftsführer sei sogar ein Strafverfahren angestrengt worden, weil er Bilanzen gefälscht haben soll, um noch Bankkredite zu erhalten.
Ja, jetzt wird nichts mehr in Deutschland produziert. Die deutschen Marken lassen alle im Ausland herstellen. 80 Prozent der Schuhe hier im Laden, die ich sehe, würden in Asien hergestellt, China und Vietnam. "Was, auch Josef Seibel produziere im Ausland?", frage ich. Ja, in Rumänien. Aber wenn man die Schuhe kauft, erfährt man das auch, kann man am Karton ablesen. Bei anderen erfahre man das meist nicht. Aber er weiß, wo sie alle produzieren lassen. Ich muss ihn testen und will es wissen.
Diese italienischen Schuhe, die ich in den Händen halte. Da steht drauf: Made in Italy. Die sind doch in Italien gefertigt, oder? Er meint ironisch: Die Schnürsenkel sind in Italien an den Schuh angefädelt worden, daher das Made in Italy. Ich hake nach. Rechtlich ließe sich in einem solchen Falle nicht mit "Made in Italy" werben, das wäre Verbrauchertäuschung. Na gut, in Italien gibt es noch eine Schuhindustrie. Sonst gibt es neben Italien eigentlich nur noch nennenswerte Produktion in Portugal und Spanien (er meint wohl: in der EU). Und Polen? Ich hatte mir Ende der 90er Jahre in Krakau ein sehr modisches Paar mit hohen Absätzen gekauft und habe sie heute noch. Es habe Versuche deutscher Hersteller gegeben, in Polen produzieren zu lassen, sagt er. Die haben noch eigene Produktion, doch sei die Qualität nicht so doll.
Was ist mit Rieker? - Der war einer der ersten, der seine Schuhproduktion nach Asien verlagerte. Übrigens entwickle der keine eigenen Modelle, sondern baue nur Modelle anderer Konkurrenten nach. (Ich denke an Hexal bei den Medikamentenherstellern.).
Es sind schon einige bekannte Schuhhersteller "gestorben". Deichmann hat noch bekannte Marken im Programm, etwa Gallus, ein ehemals österreichischer Schuhhersteller. Deichmann übernahm den letzten deutschen verbliebenen Schuhhersteller: Die Elefanten. Kinderschuhe. Das ist nur noch der Name, die Marke.
Ach so, die Briten haben natürlich noch gute Schuhe. Aber die sind so teuer ... Der britische Herr - eine ganz andere Kundenkategorie. Vor mir schweben Bilder: ölgetränkte dunkelgrüne schwere Regenjacken, Rolls Royce, Jaguar, Regenschirm und Melone. Mir fällt die Marke Westbury ein, die bei C&A verkauft wird. Ja, zum Beispiel, sagt der Verkäufer. Hat nicht Deichmann auch englische Schuhe im Programm?
Ich sehe ein paar schöne Paare made in Switzerland. Irgendwas mit metz. Ob die auch ... Das wisse er nicht. Ja, das sei ein Fehler gewesen, so viele von denen zu ordern. Gute Qualität, aber so höherpreisige werden zu wenig gekauft heute. Die werde er kaum los. Tja, die Leute kleiden sich heutzutage nicht mehr gut in Deutschland. Die Deutschen verwahrlosen. Ich sage, ja, in Russland zum Beispiel kleiden sich die Leute in der Stadt besser. Er: Überhaupt, rings um Deutschland, in all den Ländern kleidet man sich besser als in Deutschland. Deutschland wird zum Entwicklungsland bei Textilien, Bekleidung. Deutschlands breite Schichten der Bevölkerung verarmen. Was macht unsere große Koalition aus unserem Lande?
- Draußen auf dem Marktplatz ist heute Markttag. Billigkleidung in komischen Farbkombinationen, labbrige Pullover ... Alles Schund hier. In der Hauptstadt seines Landes, in das er bald auswandern will, gibt es den größten Marktplatz in Europa, behauptet er. Da gebe es Qualität zu kaufen. Die Schuhe sind dort nicht billiger. Rieker gibt es dort auch, kostet aber das Anderthalbfache als in Deutschland.
Ja, so kaufen Russen gern auch deutsche Qualitätsschuhe, die so bequem sind, gern hier, wenn sie zu Besuch sind, sage ich und denke: wie meine Freundin Tanja aus St. Petersburg. Nicht nur während der ITB 2006, auch als ich sie im Frühjahr 2007 in Frankfurt auf einer Messe traf, hatte sie in ihrem Hotelzimmer wieder gerade neu gekaufte Schuhe zu stehen. Wie heißt gerad´diese Marke? Glaube, das war eine Frauenschuhmarke, von der es auch ganze Filialen gab... ecco?
Aber jetzt zu den Feiertagen hatte er Amerikaner, die hier im Stadtteil bei Verwandten zu Besuch waren, die gut gekauft haben. Wollten Rieker-Schuhe, die es dort nicht gibt. Rieker ist die in Deutschland am meisten gekaufte Marke. (Habe ich das richtig verstanden? Oder meinte er den Umsatz?)
Diese Verwahrlosung - das ist nicht nur, wie Otto Normalverbraucher sich (schlecht) kleidet. Es ist auch eine kulturelle Verwahrlosung und Abstumpfung. Der Deutsche ist ein Duckmäuser, traut sich nicht mehr aufzubegehren. Da sind die Menschen in seinem Baltenland anders. Die protestieren gerade heftig, weil es dort wirtschaftlich bergab gehe, was natürlich auch mit der Weltwirtschaftskrise zusammen hänge.
Er ist nicht griesgrämig, sondern sagt das alles mit einer verhaltenen Belustigung, wie es scheint, mit einer ironischen und schadenfrohen oder resignierten Note. Oder es ist ihm recht, sich ein wenig zu unterhalten und zeigen zu können, was er drauf hat. Der Schuhladen existiert schon lange an diesem Platz, kann sich behaupten. Ich mag es, dass er sich so gut auskennt und keinen Kaufdruck auf mich ausübt. Einem Bekannten, der mal so reinschneit und sich nach seinem Befinden erkundigt und fragt, ob sie sich abends wieder treffen (in der Kneipe?), sagt er, er sei so etwas lustlos heute. Diese Lockerheit und Entspanntheit gefällt mir. Ein guter Verkäufer. Für meine Schuhgröße sind leider kaum interessante Schuhe da, außer die guten Schweizer... - eine Preislage höher, die gehören nicht zu jener Herbstausverkaufsaktion.
Also den Schuh, den ich jetzt in den Händen halte, der ist von Pölking. Das ist kein Hersteller, keine Marke, sondern ein Großhändler. Bietet bessere Konditionen als mancher Hersteller wie etwa Rieker. Da könne er zum Beispiel auch einzelne Paare nachbestellen.
Einen schönen Tag noch! Es war lehrreich und unterhaltsam. Ein Besuch in meiner Kindheit in der Werkstatt eines Großonkels in Erfurt, der Orthopädieschuhe fertigte, blieb mir in guter Erinnerung. - Das Land, um das es ging, war Lettland. Der größte Textilmarkt Europas soll in Riga sein.
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Nachtrag 10.04.2010
Heute sah ich an dem Schuhladen wieder große Buchstaben: Seit März großer Ausverkauf! Der Schuhverkäufer hat also den Mietvertrag gekündigt und macht zu, macht seine Ankündigung wahr.
Nachtrag 18.02.2009
Eine kleine Begebenheit zu Schuhen fällt mir gerade noch ein: Als ich oberhalb von Krasnaja Poljana war, in Esto Sadok (heißt so, weil sich hier Esten niederließen), mit dem Ziel, auf den Berg Aibga zu fahren und auf dessen Bergrücken zu wandern, da wurde der Taxifahrer, der mich vom Hotel SAS Radisson, wo ich an der Straße auf den nächsten Bus wartete, herbrachte, auf meine Wanderschuhe aufmerksam, als ich sie aus dem Rucksack holte und anzog. Schwere, grüne Raichle-Bergwanderstiefel. Habe ich schon ein paar Jahre gehabt, aber immer noch in gutem Zustand, da nur im Urlaub benutzt. Er wollte sie mir gerne abkaufen. Denn solche guten Wanderstiefel sind hier kaum zu kaufen. - Natürlich habe ich sie nicht hergegeben. Als ich sie kaufte, waren sie für mich ein Schnäppchen gewesen: statt 400,- DM nur 200,- DM. - An jenem Tage konnte ich sie aber oben auf dem Berge kaum auslaufen. Denn dort oben verläuft die Grenze zu Abchasien. Und die war seit kurzem gesperrt. Soldaten hatten schon begonnen, Gräben für einen Zaun auszuheben. - Naja, später mehr über Sotschi und Krasnaja Poljana.
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Nachtrag 31.01.2009
Vor ein paar Tagen sagte mir eine Bekannte, sie weiß noch von einem deutschen Schuhproduzenten - neben Birkenstock (zählt [...Next]