Rechtzeitig vor 18 Uhr sichere ich mir einen Sitzplatz im großen Saal oben in der Kalkscheune für einen der Höhepunkte des Kongresses.
Bei Lawrence Lessig, dem Initiator der Creative Commens zur flexiblen und übersichtlichen Regelung der eigenen Urheberrechte, geht es um Re:Mix. Mit einem Blick in die amerikanische Geschichte steigt er ein. Sein Vortragsstil ist temporeich und rhythmisch. Er betont einzelne Wörter, Prädikate mithilfe seiner Diashow: In dem Moment, wenn er Prädikate nennt, kann man sie an der Leinwand lesen; was heißt "lesen"? - aufblitzen sehen. Sie wechseln sich mit Bildern ab, die bestimmte Worte bekräftigen. Diese Abstimmung mit den Slides ist beeindruckend; das ist Hip Hop mit Bildern statt mit Bässen. Das muss vorher zu Hause genau einstudiert worden sein.
Die Sprache des "Writers" im 21. Jahrhundert ist Remix, fasst er den geschichtlichen Überblick zusammen. Jeder Schreiber (im weiteren Sinne, vielleicht treffender: jeder Medienschaffende) benutzt heutzutage schon Kopien. Das demonstriert er an mehreren Beispielen, die gerade in den USA auf Youtube populär sind. Diese Videos finden auch bei den begeistert zuhörenden Teilnehmern Anklang; es wird laut gelacht. Keine Frage, hier wurden kreative Werke geschaffen. Aber alle diese Videos, die er zeigt, sind illegal. Keiner derjenigen, die hier kreativ mixten, hat sich darum geschert, ob er Urheberrechte an dem benutzten Material verletzt. Sie nutzten einfach die Möglichkeiten, die die Technologie ihnen bot. Diesen technischen Bedingungen entsprechen die copyright terms nicht. Sie müssen den geänderten technologischen Bedingungen angepasst werden, sagt Lessig, denn sie behindern Fortschritt, sie behindern Kinder bei der Entwicklung ihrer Kreativität. Kinder dürfen nicht kriminalisiert werden, wenn sie sich Texte, Bilder, Videos aus dem Internet herunterladen. Wir müssen den geistigen Reichtum, der existiert, einteilen in kommerzielle und nichtkommerzielle, also öffentliche Güter. Bei der Schaffung von Letzterem brauchen wir staatliche Hilfe.
Eine weitere entscheidende Unterscheidung ist die zwischen nachträglich zugesprochenen Rechten an geistigem Eigentum und prospektiven Rechtsschutz. Lessig setzt sich dafür ein, dass Urheberrechte prospektiv wirken. Es darf keine rückwirkendes Zusprechen von (neuen Formen von) Urheberrechten geben. Leider ist das heute gängige Praxis. Künstler haben hier die Politik auf ihrer Seite. Künstler sind doch aber aufgrund bisheriger Gesetze und ihrer Verträge mit Kunsthändlern, Verlagen und Labels schon längst bezahlt worden. Die Politik hat deren Rechte trotzdem ex post verstärkt und verlängert. Aber auch die Rechte der Verleger, Plattenlabels usw. profitieren von diesen Ausdehnungen der Rechte im Nachhinein auf Kosten der Allgemeinheit. Warum ist das so? Das ist nicht gerecht. Manchen mag diese Aussage überraschen. Aber Lessig macht das anschließend plausibel. Dabei zeigt sich Lessig meiner Meinung nach als Demokrat und als Verfechter eines Rechtspositivismus.
Warum? Eine Rückwirkung von Gesetzen ist mit einem Rechtsstaat kaum vereinbar, weil solche Gesetze, soweit sie einen Zeitraum in der Vergangenheit bis zum Jetzt nicht als Richtlinien zum Handeln dienen, sondern zur (Um-)Verteilung von schon verteilten Gütern. Ja, soweit bisher für bestimmte Nutzungen keine Rechte der Urheber geregelt waren, bestanden Nutzungsrechte der Allgemeinheit. Hier fehlt dem Gesetzgeber die demokratische Legitimation, diese Verteilung von Rechten für die Vergangenheit noch nachträglich zu ändern. Anknüpfungspunkt für die Zeit ist für Lessig dabei der Zeitpunkt oder Zeitraum der Schaffung des Werkes. Das rückwirkende Zusprechen weiterer Nutzungsrechte an einem solchen Werk als Ausfluss von Urheberrechten sieht Lessig als Zeichen einer Korrumpierung der Gesetze erzeugenden Politiker durch die Unterhaltungsindustrie.
Besteht im deutschen Urheberrecht gar in § 31 (Einräumung von Nutzungsrechten) Absatz 4 in Verbindung mit 29 (Rechtsgeschäfte über das Urheberrecht) Absatz 1 UrhG eine Grundlage für eine Ausdehnung von Rechten an Werken, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Werke noch völlig vage sind, weil insoweit "die Rechte" sich auf Nutzungsmöglichkeiten beziehen, die noch gar nicht bekannt sind? Das würde bedeuten, dass mit dem technischen Fortschritt Rechte automatisch dem Urheber hinzuwachsen. Warum sollen die aber vom technischen Fortschritt, der von vielen anderen erarbeitet wurde, ohne weiteres profitieren dürfen? Das ist so, als ob eine neue Tierart entdeckt würde und einem Konzern alle Rechte an solchen Tieren zugeschrieben würden, nur weil dessen Mitarbeiter im Dschungel eines fremden Landes nach irgendwelchen noch nicht entdeckten Tieren gesucht und dabei eine neue Tierart entdeckt haben.
So verstehe ich Lessig. Nein, so kann man aber den § 31 Abs. 4 UrhG nicht lesen (Über deutsches Urheberrecht referierte Lessig nicht.). Hier ist nur das vertragliche Rechtsverhältnis zwischen Urheber und Verwerter seiner Nutzungsrechte geregelt; Letzterer soll nicht auf Kosten des ersteren aus technischem Fortschritt ohne Eigenleistung Profit schlagen dürfen.
Aber in der Tat gibt es (anstelle von Urheberrechten), um an den vorletzten Absatz anzuknüpfen, Patente an Pflanzen und Tieren. Hier stellen sich ähnliche moralische Fragen. Am 15. April.2009 demonstrierten Bauern vor dem Europäischen Patentamt in München gegen ein Schweinezuchtpatent des Konzerns Monsanto. Wenn bestimmte Gene in Tieren entdeckt werden, darf der Entdecker nicht bestimmen dürfen, ob Forschungen von Dritten an solchen Genen von Dritten durchgeführt werden oder wie, nur weil auf dem Wege zu der Entdeckung viel investiert wurde und weil man am schnellsten war (im Wettlauf um Profitquellen). Denn es lassen sich entwickelte geistige Güter und Methoden finden, die von anderen geschaffen wurden und eben auch von solchen Genentdeckern, um im Beispiel zu bleiben, genutzt wurden, ohne von ihnen konkret bezahlt worden zu sein. Wissenschaftliche Entdeckungen gründen immer auch schon auf Vorarbeiten vieler anderer. Das ist ein allgemeines Entwicklungsprinzip, ob es sich nun um das Herstellen von Elektrobeats mit Computern, Programmcode mit Computern oder Expeditionen in schwer zugängliches Gebiet im südamerikanischen Dschungel mit dem Ziel des Auffindens neuer Pflanzen und Insekten geht, um deren Eigenschaften zu nutzen. - Jeder Entdecker, Forscher und viele Künstler wurden erst durch den (allgemeinen) technischen Fortschritt in die Lage versetzt, etwas bestimmtes Neues zu finden oder zu schöpfen. Und dadurch sind solche Güter auch in gewissem Maße gemeinpflichtig. Absolute Rechte daran sind problematisch. Man denke auch mal an das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Personen der Öffentlichkeit. Es ist zugunsten der Pressefreiheit eingeschränkt. Bilder solcher Personen dürfen karikiert veröffentlicht werden. Diese Bekanntheit erlangten solche Personen gerade auch erst durch die Medien. Ich denke, das Prinzip wurde jetzt deutlicher.
Lessig meint also: Amateure müssen frei von Dritten geschaffenes Material remixen dürfen. Reguliert werden müssen die Nutzung geistigen Eigentums durch Professionelle und das Anfertigen von Kopien zu privaten Zwecken. Private Nutzer dürfen nicht kriminalisiert werden, wenn sie geistige Güter nutzen. Selbstverständlich sollen Künstler die Früchte ihrer Arbeiten ernten. Sie bedürfen so gesehen schon des Schutzes. Nur vor wem, vor Privatnutzern oder Rechtehändlern, vor der Unterhaltungsindustrie? - Ich möchte ergänzen: Vielleicht vor der GEMA? Außerdem besteht ein allgemeines Interesse an Bildung, an Geschichtsschreibung und -wahrung, an Grundlagenforschung. Es muss also bei der Regelung geistigen Eigentums abgewogen werden zwischen Interessen der Allgemeinheit und kommerziellen Interessen einer Minderheit oder Einzelperson. Politiker lassen sich hier von Lobbys (Verwertungsgesellschaften) zu Lasten der Gemeinschaft missbrauchen.
Aber auch Juristen haben vielfach ein anrüchiges Verständnis von geistigen Rechten als absolute, technischen Fortschritt in der Zukunft schon mit berücksichtigende, Rechte. Manches Mal vermisste ich das Fehlen von rechtsphilosophischem Grundlagenwissen bei solchen Juristen, die zu dieser Problematik auffällig einseitig argumentierten. Was wurden Anfang dieses Jahrtausends nicht alles für Verrenkungen vorgenommen, um Downloads von P2P-Netzwerken als Vervielfachung von Werken zu interpretieren, ob in den USA oder in Deutschland; selbst schon das zeitweise (virtuelle) Vorhandensein einer Datei oder eines Dateifragments im Arbeitsspeicher des Computers. Nach dem bisherigen Begriffsinstrumentarium waren Streitigkeiten um die Nutzung neuer technischer Möglichkeiten nicht zu bewältigen. So wurde das prägende Merkmal der Gegenständlichkeit einer Kopie, die für eine Duplizierung/Vervielfachung immer erforderlich war, zugunsten einer Flüchtigkeit, gewissermaßen eines Schattens des Originals aufgegeben. Damit weichte man Begriffe, (Begreiflichkeit von ...) Tatbestandsmerkmale(n) auf. Mit aller sprachlichen Gewalt wurden höchst fragwürdige Argumentationsmuster entwickelt, die darauf hinausliefen, die Nutzer der modernen Technik zu kriminalisieren, zu bestrafen. Im deutschen Internetrecht bildete sich mit einem Male die Figur des (Mit-)Störers. Diese ist aus dem Polizeirecht entlehnt, wo es darum geht, jemandes haftbar zu machen für die Beseitigung von Gefahren an Rechtsgütern einzelner oder der Allgemeinheit (z.B. Waldbrand, Erdrutsch) durch die Polizei, der dann die angefallenen Kosten des konkreten Polizeieinsatzes zur Gefahrenabwehr zu tragen hat und passte gar nicht in das zivilrechtliche Internetrecht, wo sich individuelle Parteien um ihre persönlichen Rechte streiten. Wer also Server einem P2P-Netz zur Verfügung stellte, wurde quasi zum Täter (bzw. Verletzer von Urheberrechten) gestempelt, so als wenn ein Eisenwarenladeninhaber zum Täter eines Verbrechens gemacht wurde, das mit einem bei ihm gekauften Messer begangen worden war. Hier wurde die ganze Argumentation um die Verletzung individueller Rechte weitgehend im Bereich der Kausalität abgehandelt und die Verantwortlichkeit (Schuld) aus der Kausalität abgeleitet, ohnesauber mit den Tatbestandsmerkmalen der Urheberrechtsnormen zu arbeiten. Solche Diskreditierungen unter Vernachlässigung der Gesetzesdogmatik waren nichts als Wertentscheidungen von Juristen, die gar nicht auf der Höhe der technischen Entwicklungen standen. Weil sie die Technik (noch) nicht nutzten, verstanden sie diese nicht und damit auch nicht die Folgen, die ihre Entscheidungen bewirkten. Doch zur Rechtsanwendung gehört auch das juristische Handwerk der Rechtsfolgenabwägung, der Vorausschau auf die Zukunft nach der Entscheidung durch Gerichtsurteil. Diese hätte hier ergeben müssen, dass es Sache des Parlaments ist, die gesetzlichen Rechte der Urheber zu überarbeiten, anstatt das hier Recht durch Richter (undemokratisch) fortgebildet wird. Nur wenige Richter sind bereit, sich bei politisch oder moralisch bedenklichen Ergebnissen ihrer Urteile anhand der Gesetze nach den Regeln der Gesetzesauslegung und -anwendung von der Öffentlichkeit als Buhmann hinstellen zu lassen. Aber gerade die mediale Entrüstung über als ungerecht empfundene Lösungen können gerade zu einem Druck auf den Gesetzgeber führen, das positive Recht möglichst schnell anzupassen.
Neben einem öffentlichen Druck auf die Politik zum Handeln bedarf es auch des Mutes, der Zivilcourage von Richtern, manchmal in der Bevölkerung mehrheitlich nicht akzeptierte Entscheidungen zu treffen, wenn das Gesetz das allgemein zu wünschende Ergebnis nicht zulässt, wenn deswegen aber öffentlicher Protest zu erwarten ist. An einer solchen Voraussicht mangelt es, wo Richter von Vorurteilen und Bequemlichkeit geleitet sind, oder sich von wirtschaftlich starken Lobbys bearbeiten lassen.
Die gekünstelten Gerichts-Entscheidungen zu Urheberrechtsverletzungen durch Nutzung von P2P-Netzwerken Anfang dieses Jahrzehnts sind klassische Beispiele für Interessenjurisprudenz, eine andere rechtsphilosophisch grundlegende Strömung (gewissermaßen juristische Weltanschauung) als es der Rechtspositivismus ist. Danach ist, vereinfacht (überspitzt) gesagt, Recht das, was opportun ist, solange es sich noch mit den gegebenen Gesetzen irgendwie begründen lässt. Interessenjurisprudenz ist der Gefahr der Korruption der Rechtsanwender stärker ausgesetzt als ein Rechtspositivismus. Letzterer hat aber wegen des Nichthinterherkommens des Gesetzgebers mit der Aufstellung von Regeln hinter den technischen und klimatischen Veränderungen in unserer Welt und wegen des schlechten Gesetzgebungshandwerks unserer Parlamente auf Bundes- und Länderebene keine alleinige Daseinsberechtigung. Schlecht gemachte Gesetze sind häufig ja eine Folge von Kompromissen zwischen verschiedenen Gesetzesentwürfen verschiedener Parteien, von Parteienklüngel und die Frage ist, ob (unter welchen Bedingungen) in
einer Situation der politischen Blockade es nicht besser ist, dass ein Gericht das praktisch kaum brauchbare Gesetz mit seiner freien Auslegung verbessert, auch wenn das keine demokratische Lösung ist.
Lessig ist betroffen, wie langsam die EU mal in Gang kommt und etwas in diesem Sinne, Anpassung des positiven Rechts an die technologische Entwicklung und gesellschaftlichen Notwendigkeiten der heutigen Zeit, bewegt. Das Europäische Parlament dient den Interessen der Unterhaltungsindustrie, lässt sich von der korrumpieren, ist Lessig
überzeugt. Er appelliert an uns, aktiv zu werden und nachzuhelfen. (Apropos: Am 7. Juni steht die Wahl des Europäischen Parlaments an. - Aber welche Partei, welche Fraktion sollen wir wählen? Jede besteht aus Vertretern verschiedener EU-Mitgliedsstaaten, mit jeweils unterschiedlichen Interessenlagen und Traditionen. Kann man da effektive Politik erwarten?)
In den USA werden Kinder als Kriminelle abgestempelt, ja mit Terroristen in eine Ecke gestellt dafür, dass sie die Medien und das Internet kreativ nutzen. Viele kulturelle Güter können nicht archiviert werden, beklagt Lessig, und sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, weil an ihnen noch lange Urheberrechte einiger weniger bestehen.
Von Max Senge zu dessen Projekt befragt, empfiehlt Lessig ihm, für
Website-Inhaber fakultative Möglichkeiten zu schaffen, die CC Privacy einbauen zu können. So hat er keine Opposition von seiten der Unterhaltungsindustrie und reibt seine Kräfte nicht so auf. Von gesetzlichem Zwang zur Einführung hält er wenig; ist kaum durchsetzbar.
Mit einer Osterüberraschung wartet die BBC am 13.4.2009 auf, lese ich beim Schreiben dieses Posts bei Golem. Sie hat angekündigt, Bestandteile einer monatlichen Technologiesendung unter einer Creative Commons-Lizenz zum Remixen bereit zu stellen. Toll!
Nachtrag 14.05.2009:
Heise-Artikel vom 14.05.2009: Lauwrence Lessig - das alte Copyright muss weg!
Nachtrag 01.03.2014:
Heise-Artikel vom 28.02.2014: Urheberrechtsklage - Musikfirma zahlt an Lawrence Lessig nach Vergleich Schadensersatz