Hier haben wir wieder ein Beispiel für die Geier-Kultur unserer Journalisten einschlägiger bundesweit verlegter Zeitungen und Zeitschriften. Tatsachen, die aus einer Pressemeldung zur Verfügung stehen, werden phantasievoll ausgeschmückt. Man recherchiert schnell im Internet und presst das gesammelte Material in die Artikel rein, ohne Rücksicht auf die Privatsphäre der betroffenen Personen. Vorgestern hatte ich einen Artikel übersetzt, den ich auf Rambler gefunden hatte, der von der Nachrichtenagentur Interfaks kam.
Darin war erwähnt, dass das Paar aus Marburg-Michelbach eine Tochter hat, die in Marburg studiert. Gestern fand ich Artikel, in denen steht, dass sie Medizin studiert. Ist das eine Information, die der Leser wissen sollte, wissen darf? Die Tochter ist nicht festgenommen worden. Die muss nicht beleuchtet werden. Der Mob der Journalisten, die tiefer in das Privatleben eindringen als die Polizei erlaubt, meint wohl, in Deutschland gilt die Sippenhaftung. Hier besteht kein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Hier wird nur die Neugier und Sensationslust der Leser befriedigt (und der schnüffelnden Journalisten).
Auf der Website Stimme Russlands, die Deutsche über Russland aufklärt, gießt Pjotr Scharapow in seinem Artikel vom Montag, dem 24.10.2011 Öl auf wogenden Presse-Wellen: Die deutschen Medien schaukeln den Fall nur hoch, weil es tiefsitzende Ängste gegen Russland gibt und sich Artikel über die Inhaftierung der mutmaßlichen Spione besser verkaufen lässt. Scharapow gibt den Inhalt eines Interviews wieder, den der Herausgeber und Russland-Experte Alexander Rahr der Rossijskaja Gaseta (RG) gegeben hat und den diese am 24.10.2011 veröffentlicht hat. Ich habe die betreffende Seite nach einigem Suchen herausgefunden (Quellenangabe von Scharapow insoweit zu ungenau) und werde jetzt das übersetzen, was Herr Rahr hier erklärte. Denn was Scharapow da über die Äußerungen von Rahr erzählt hat, wundert mich und ich frage mich, wie Rahr, wenn er richtig widergegeben wurde, zu solchen Behauptungen kommen kann.
Nach Scharapow auf der Website Stimme Russlands soll Alexander Rahr folgendes gesagt haben:
Hinter dieser Geschichte steckt nicht einmal ein Hauch von der wirklichen Spionage. Das Ehepaar wohnte in einer kleinen Provinzstadt, wo nichts auf ein Interesse von Spionen hindeuten könnte.
Scharapow behauptet:
Der Experte widerlegte mit Sicherheit die Medienberichte, laut denen sie Technologien der deutschen Autoindustrie ausspionierten. Viele Konzerne bauen bereits ihre Wagen in Russland zusammen und deutsche Luxus-Modelle gebe es im Land mehr als in Deutschland selbst.
Hier geht es zum Artikel von Scharapow.
Ich wundere mich, mit welcher Naivität substanzlose Behauptungen vom Stapel gelassen werden. Ohne jetzt die deutsche Medienlandschaft daraufhin abzuklopfen, ob hier alle so etwas von der Spionage in der Autoindustrie geschrieben haben oder nur derlei Vermutungen äußerten in ihrem Sensationswahn: Widerlegt werden können behauptete Tatsachen, aber wohl kaum Berichte. Schon gar nicht können viele verschiedene Berichte mit so wenig Text widerlegt werden, wie das Interview mit Rahr auf der Website der Rossijskaja Gaseta hergibt. "Mit Sicherheit" ist sich Herr Scharapow nicht der Doppeldeutigkeit des Wortpaares bewusst gewesen. Für mich ist dieser Fall mal wieder eine Erinnerung dafür, dass die Schaar der Journalisten mit Sicherheit mit zuviel Selbstbewusstsein bei der Arbeit ist.
Mitnichten können verschiedene Ausschmückungen der Texte der deutschen Presse über das Paar als gesichert gelten. Es ist z.B. nicht klar, welche Nationalität die beiden haben. Dass es Russen sind, steht nicht fest. Daher kann man nicht schreiben: Russische Spione wurden festgenommen. Auch nicht, wie auf der Website der ARD-Tagesschau zu lesen: "zwei mutmaßliche russische Spione". Das Wort mutmaßlich bezieht sich hier nur auf das Substantiv "Spion" und suggeriert, dass es jedenfalls Russen sind. Ebenso steht nicht fest, dass es sich um Österreicher handelt, wie aber Scharapow geschrieben hat, weil laut vieler Meldungen die österreichischen Pässe ungültig weil gefälscht sind.
Weiter: Die Tatsache, dass deutsche Autokonzerne in Russland Autos produzieren, lässt keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass Motive des verdächtigten Paares für eine Spionagetätigkeit gegen Betriebe der Automotive-Branche nicht bestanden haben können. Hier widerspreche ich Scharapow (und, wir werden es gleich sehen, auch Alexander Rahr).
Scharapow erscheint mit seinem Artikel auch nicht besonders sachlich und genau zu sein im Vergleich zu Journalisten der deutschen Presselandschaft, gegen deren unqualifizierte Berichte sich sein Artikel richtet. Er steht auf der anderen Seite. Sein Motiv der Verteidigung des Russland-Images ist offensichtlich. Er schrieb hier als eine Stimme Russlands.
Übrigens fand ich auf RG eine Meldung, nach der Putin ein Dekret erlassen hat, wonach ein Programm aufgestellt wird, das der Image-Aufwertung dienen soll. Danach sollen junge Leute zwischen 25 und 35 in Gruppen nach Russland reisen, um zu erfahren, dass Russland tatsächlich besser ist als sein Ruf im Ausland.
Jetzt aber zur Übersetzung, die ich in mehrere Teile einteile, um sie anschließend besser kommentieren zu können:
1) "Es ist unklar, was für einer Spionagetätigkeit das Paar in einer solchen Provinzstadt hätte nachgehen können. Dort, wo sie wohnten, gab es keinerlei Kriegsgeräteproduktion, keine NATO-Objekte, keine Raketenbasen oder einflussreiche politische Institutionen. Das ist im Großen und Ganzen eine Stadt der Studenten, wo es Universitäten und einige damit verbundene wissenschaftliche Einrichtungen gibt und das ist alles." (gemeint ist Marburg/Lahn, J.S.)
Kommentar: Hat irgendwer erzählt, dass das Paar kein Recht auf Freizügigkeit bekommen hat und nicht gereist war? Außerdem hat es in Michelbach erst ein Jahr gewohnt, aber zuvor in Baden-Württemberg, wo der Mann in der Automotive-Branche gearbeitet hat. Woher weiß Herr Rahr, dass das Paar gerade die Aufgabe der militärischen Aufklärung hatte? Außerdem scheint er übersehen zu haben, dass es hier einen Betrieb eines Pharmakonzerns gibt und einen Produzenten von sehr guten Solarthermiemodulen (Wagner). Und ein Universitätskrankenhaus. Und das Rhein-Main-Gebiet, in dem sich mehr Hochtechnologie-Unternehmen befinden, liegt nicht gar so weit entfernt. Und dass es schon berichtet worden war, dass die Frau auf frischer Tat ertappt worden war, als sie Informationen in die Zentrale funkte oder von ihr bekam (Nachrichten sind hier nicht einheitlich), scheint er auch nicht gewusst zu haben.
2) "Dort kann man auch niemanden rekrutieren. Kürzlich tauchte in den Medien die Behauptung auf, die festgenommene Frau habe Geheimnisse der Autoproduktion nach Russland übermittelt. Das ist vollkommen lächerlich. Man produziert bereits deutsche Autos in Russland und die Zahl der Luxuswagen ist in Russland höher als in Deutschland selbst. Spionagetätigkeit hat es nicht und konnte es nicht geben."
Kommentar: Wieso kann man niemanden in Marburg rekrutieren? Herr Rahr scheint nur an Militärs zu denken. Dazu siehe unten meine Kommentierung. Das ins Lächerliche ziehen einer Meldung geht hier so nicht auf. Herr Rahr ist offenbar zu weit vom Fall entfernt, um konkrete Fakten entgegen zu stellen. Meinungen und Mutmaßungen widerlegen keine Fakten. Nun, ich kann nicht sagen, was die Polizei, der deutsche Geheimdienst, die Staatsanwaltschaft in den Händen hat; Herr Rahr aber sicher auch nicht. Also warten wir doch erst ab, bevor wir das Paar in Schutz nehmen.
3) "Ich vermute, dass die beiden während der Zeit von Andropows KGB nach Deutschland gebracht wurden und dann aber vergessen worden sind. Wirklich, es riecht dort nicht nach Spionage. Ich kann nur mutmaßen, dass den russischen Geheimdienst irgendwelche militärischen Fragen in Bezug auf die Nato interessieren. Doch dort, wo das Paar gewohnt hat, kann man sich damit nicht beschäftigen."
Kommentar: Worte, Worte, Worte. Immer nur Mutmaßungen. Deswegen sticht die Autorität von Herrn Rahr hier nicht, um gegen die Nachrichtenwelle etwas auszurichten. Spionagetätigkeit ist Strategie und Taktik. Man darf den Offizieren vom russischen Geheimdienst ruhig zutrauen, dass sie in der Lage sind, Ablenkungsmanöver zu organisieren und ihre Figuren dort zu platzieren, wo sie nicht auffallen.
Wenn wir all den Berichten der deutschen Presse misstrauen wollen, haben wir immer noch - nur - eine non liquet-Situation. Und da heißt: abwarten, bis gesicherte Fakten ermittelt worden sind, anstatt voreilig zu entscheiden. Es ist nicht seriös, sich hier zu diesem Zeitpunkt solche Urteile zu erlauben.
4) "Es könnte sein, dass den deutschen Geheimdienstleuten einfach die Tatsache missfiel, dass da theoretisch Spione in Deutschland leben."
Kommentar: War hier vielleicht gemeint: "potentielle", statt: theoretische? "Theoretische" ist kein Begriff im Fachjargon der Gefahrenabwehr der Polizei. Wenn man Gefahren Menschen zuschreibt, geht es nie um theoretische Gefahren, sondern um die Einschätzung des Maßes, wie wahrscheinlich die Realisierung der Gefahr ist, geht es um die Gefahrenpotenz der Personen und darum, wer die Verantwortung dafür zu tragen bereit ist, dieses Risiko nicht beseitigt zu haben (mit der Folge der Abschiebung ins Ausland, wie bei Anna Chapman und ihren Kollegen).
Also entweder Rahr wurde hier falsch von der RG zitiert und damit vielleicht instrumentalisiert, hat tatsächlich keine Ahnung von polizeilicher Gefahrenabwehr oder will hier bewusst ein Ereignis miniaturisieren. Das sind doch alles nur Mutmaßungen von Alexander Rahr und seine Meinung. Hier fehlt eine Analyse. Weit und breit nichts von einer Widerlegung zu sehen, die Scharapow in diesen Äußerungen erkennen will.
5) "Ich bin mir sicher, dass dieser ganze Vorfall absolut keine Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau hat. Deutschland ist sehr zufrieden mit dem erreichten Stand der Beziehungen mit Russland, vor allem was die Wirtschaft betrifft. Keiner wird diese beschädigen. Diese Pseudospiongeschichte ist absolut unbedeutend. In Deutschland hat man ihnen keine besondere Aufmerksamkeit gezollt. Es gab keine Eile. Die Meldung war eine unter vielen anderen. In Europa gibt es immer noch Menschen, die in Stereotypen des Kalten Krieges denken. Und manchmal kriegen sie was von gefassten Spionen zu lesen und finden das interessant. Die Deutschen selbst erkennen, dass sie nichts zu spionieren haben. Selbst Deutsche denken, dass es bei Ihnen nichts auszuspionieren gibt. Aber vielleicht sind nur viele des Lesens über Probleme in Griechenland müde und begrüßen diese Abwechslung mit der Festnahme von Spionen."
Kommentar: Herr Rahr bagatellisiert. Das ist auffällig. Er benutzt suggestive Sätze. "Selbst in Deutschland gibt es..." Natürlich gibt es alle möglichen Meinungen, unter anderem Leute, denen dieser Vorfall egal ist. Aber es gibt auch andere, insbesondere in der Wirtschaft, denen am Schutz ihrer Technologie gelegen ist. Und davon hat Deutschland reichlich. Da gibt es sehr viel zu entdecken. Besucht dieser Mann keine Messen? Wir haben doch einige Fälle gehabt, als Chinesen festgenommen worden sind, weil sie auf Betriebsbesichtigungen alles mögliche fotografiert haben und weil sie auf Messen Plagiate ausgestellt haben. Die Chinesen sind nicht die einzige Nation...
Es ist einfach nicht wahr, dass Spione nur militärische Objekte ausspionieren. In diesem Punkte scheint mir Herr Rahr nicht mehr der Zeit hinterhergekommen zu sein mit seinem Bild, wenn er Spionage nur mit kaltem Krieg in Verbindung bringt. Gerade diese Verhaftetheit in Denkmustern von Gegnerschaft zwischen dem Westen und Osten, zwischen den Systemen sieht er als Motiv für die Aufregung in der deutschen Presse oder/und Leserschaft, die er wohl warzunehmen glaubt.
Weiter: Es geht doch gar nicht darum, was der Otto Normalverbraucher über diesen Vorfall denkt, denn der beschäftigt sich in der Regel nicht mit Spionage und Wirtschaftskriminalität. Worüber man nichts weiß, kann man sich nicht ernsthaft aufregen. Aber es ist eine Berufskrankheit von Journalisten, sich aufzuregen oder die Leser aufgeregt zu machen. Und eben davon kann sich jeder leicht einen Überblick verschaffen durch eine Stunde durch die Presselandschaft surfen. Als das [...Next]