Was halten Sie von Aufrufen zu Bokotts gegen internationale Sportwettbewerbe?
Ich werde im Folgenden meine persönliche Meinung zum Thema Boykottierung von Ländern (und am Rande noch: Sanktionierungen von völkerrechtlich relevanten Verhalten von Staaten) darstellen. Das ist nicht ganz einfach. Eine qualifizierte Antwort muss viele Faktoren und Interessen berücksichtigen.
In den Medien liest und hört man immer wieder von Aufrufen von Persönlichkeiten der Öffentlichkeit, bestimmte Sportveranstaltungen oder andere Veranstaltungen abzublasen oder nicht zu besuchen. Aktuell ist noch der G8-Gipfel präsent, der Anfang Juni 2014 in Sotschi stattfinden sollte. Jetzt wird er als G7-Gipfel am 4./5. Juni in Brüssel stattinden. Bei den Gx-Gipfeln geht es vor allem um Wirtschaftsfragen. Da treffen sich Länder, die sich alle Vorteile von den Gesprächen erhoffen. In dem Zusammenhang fällt mir auch das Beispiel TTip ein, Verhandlungen zwischen den USA und der EU um ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Hier stellt sich auch die Frage auf seiten der EU, ob man von den Verhandlungen Abstand nimmt, weil die USA keine Informationen zur Aufklärung ihrer Spionage gegen die EU-Länder und EU-Bürger liefern wollen und kaum Zugeständnisse beim Umfang ihrer Spionage machen.
Nehmen wir den Sport:
Vor den Winterspielen in Sotschi hatten wir das Thema Boykott permanent in den Medien. Bei den Paralympics stellte sich die Frage des Boykotts durch die Ukraine wegen der Krimkrise. Bei der Eröffnungsfeier zeigte sich die Ukraine durch lediglich einen Rollstuhlfahrer. Aber die Ukraine nahm teil.
Jetzt steht die Eishockey-Weltmeisterschaft in Belarus an, in der Hauptstadt Minsk, vom 9. bis 25. Mai 2014. Auch hier gibt es zahlreiche gewichtige Boykottbefürwortungen. Siehe hierzu den Artikel vom 20.09.2013 "Lukaschenko unter Druck - EU-Parlament spricht sich für Boykott der Eishockey-WM 2014 im weißrussischen Minsk aus".
Dafür oder dagegen?
Zunächst sollte einigermaßen Übereinkunft darüber bestehen, was ein Boykott bedeutet.
Definition in der Wikipedia Deutschland:
Ein Boykott ist ein organisiertes wirtschaftliches, soziales oder politisches Zwangs- oder Druckmittel, durch das eine Person, eine Personengruppe, ein Unternehmen oder ein Staat vom regelmäßigen Geschäftsverkehr ausgeschlossen wird. Heute steht der Boykott allgemein für eine Verrufserklärung oder Ächtung durch Ausdruck einer kollektiven Verweigerungshaltung.
Wenn ich keine Shell-Tankstelle als Autofahrer ansteuere, weil ich die Marke Shell wegen (so von Gegnern in Kampagnen dargestellt:) mangelndem Verantwortungsbewusstsein seiner Aktionäre oder Manager gegenüber unserer Erde, unserer Natur ablehne (bekannter Boykottfall aus dem Jahre 1995 wegen geplanter Versenkung des Öltanks "Brent Spar" westlich von Irland), dann ist das meine persönliche freie Entscheidung innerhalb eines Marktes, an dem ich mich als Konsument beteilige und in dem ich Kaufalternativen habe.
Von Boykott kann man aus so einer individuellen Sicht aber nicht sprechen. Denn es fehlt hier der organisatorische Aspekt, solange man nicht den Zusammenhang zur Berichterstattung über den Auslöser der Vemeidung von Shell-Tanksäulen spricht. Ein Druck gegen ein boykottiertes Unternehmen wird erst durch abgestimmtes Verhalten mehrerer, möglichst großer Gruppen erzielt. Eine Verweigerungshaltung, die man als kollektiv bezeichnen kann, verlangt nach einer Gleichschaltung. Und die passiert durch den Einsatz von Medien und Massenkommunikationsmitteln.
So, und da werde ich schon mal misstrauisch. Boykotts benötigen Propaganda!
Aktuelles Beispiel: http://www.change.org/de
Ich bekomme regelmäßig per newsletter Aufrufe, mich zu engagieren an verschiedensten Aktionen. Kundgebungen, Stimmen sammeln, die Politiker, Parlamentarier beeindrucken und beeinflussen sollen, bestimmte Gesetze zu besprechen und erlassen oder zu unterlassen, Geldsammlungen, um kranken Menschen eine Operation zu ermöglichen oder den Aufbau von Projekten zu ermöglichen. Mit all diesen Motivationen sind menschliche Bedürfnisse oder Schicksale verbunden, individuelle oder für breite Bevölkerungsschichten. - Hier kann jeder seine Petition starten.
Es gibt viel Unrecht und Leid auf dieser Welt. Aktuelle Beispiele:
- Köln: Erhalten Sie den Klub "Gebäude 9"!
- Bachhaus Weimaer anstatt "Unesco-Weltkulturerbe-Parkplatz"!
- Gegen die Absetzung von "Wetten dass ...?"!
- Heidelberger Puppentheater retten!
- Eishockey-Bundesliga-Standort Dresden (zweithöchste Spielklasse) erhalten!
Manchmal setze ich mich für andere Menschen ein, gebe meine Stimme für Aktionen, die ich für gut oder richtig halte. Aber es gibt viel zu viel von Ungerechtigkeiten und Finanznöte, wegen denen Kulturprojekte sterben. Ich muss die meisten aus meinem Bewusstsein drängen, an mich abprallen lassen, um mein Leben selbstbestimmt organisieren zu können. Wieviele Petitionen verkraften Sie?
Jeder von uns muss sich vor Vereinnahmung durch andere mit ihren Projekten und Weltanschauungen, denen sie folgen, schützen. Wir erleben das täglich,wenn wir S-Bahn fahren, wenn Bettler und Musikanten um Spenden bitten.
Und jetzt kommen wir auf die große Politik zu sprechen.
Wenn sich Touristiker, die sich auf ein oder wenige bestimmte Länder spezialisiert haben, in ihrem Touristikgeschäft Boykottaufrufen anschließen würden, dann sind politische, weltanschauliche Motive wichtiger als wirtschaftliche. Unter diesen Voraussetzungen müsste das Geschäft unter bestimmten politischen Situationen eingestellt werden. Man baut nicht so schnell die Vertriebswege ab und auf. Ein Unternehmer sucht Kontinuität in seinem Geschäft und versucht sich unabhängig von politischen Entscheidungen zu halten. Man hat bestimmte Erfahrungen in einem Land gesammelt, Kompetenzen und Kontakte, die man ausnutzen möchte.
Ginge es danach, dass wir nur in Länder reisen, die politisch unbedenklich sind, würden wir auf unser Grundrecht auf Reisefreiheit verzichten (müssen). Und das, obwohl es verschiedene Motive gibt, in bestimmte Länder zu reisen: Die Landschaften, das besondere Klima, die Verbesserung der eigenen Gesundheit (bestimmte Kurorte, die auf bestimmte Krankheiten spezialisiert sind), persönliche Einladungen von Kollegen und Besuchern in Deutschland, Dienstreisen, Kunstprojekte, Bildung und wissenschaftlicher Austausch, Sportwettbewerbe.
Als ich als Student meine Reise nach Nordamerika zu den Semester-Sommerferien vorbereitete im Semester davor, waren meine wichtigsten Motive die großartigen Landschaften, Diapräsentationen, Dokumentarfilme, Berichte von Studenten, Abenteuerfilme die ich Jahre zuvor gesehen hatte, als es für mich keine Reisefreiheit gegeben hatte (z.B. Daniel Boone, Jäger und Trapper in den Appalachen), Jack London-Filme, Western. Ich suchte das Abenteuer, die Freiheit. Nebenbei versprach die Reise eine Verbesserung meiner Englischkenntnisse.
Meine Wahl traf ich nicht nach politischen Erwägungen. Ich wollte aber auch einen Studenten in Kalifornien besuchen, der in Köln internationale Beziehungen studiert hatte (dort hatte ich ihn kennengelernt).
Die Welt wäre sehr viel ärmer, wenn man all die verschiedenen Reisemotive hinter (fremden) politischen Anschauungen zurückstellen müsste. Eben dies verlangen aber Politiker von den Bürgern ihres Landes oder Bürgern der Europäischen Union. Und auch Journalisten. Ständig hört man davon in den Medien. - Jeder mag für sich selbst entscheiden, welche Länder er meidet, aus welchen Gründen auch immer. Unsere Verfassung schützt das Grundrecht auf Weltanschauungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Ich finde es anmaßend und respektlos gegenüber anderen Landsleuten, wenn mir Politiker, Verwaltungsbeamte mit sicherem Einkommen, Journalisten, Geheimdienste vorschreiben wollen, wohin ich nicht zu reisen habe, damit gegen ein Land entsprechender Druck aufgebaut werden kann, ich also zu einem Teilchen einer politischen Druckmasse gestempelt werde.
Bei Boykottmaßnahmen, bei Aussperrungen (im weiteren Sinne ist die Visumpflicht auch eine Aussperrung [von Ausländern] mit Erlaubnisvorbehalt) gibt es immer auch Leidtragende im eigenen Land, in dem ein Boykott gegen ein anderes Land installiert wird. Bei den strengen Visumregeln Russlands sind das russische Touristikunternehmen, Museen, Geschäfte in Stadtzentren) beschränkt man auch die Möglichkeiten der landeseigenen Wirtschaft. Das kommt anderen Unternehmen zu Gute. Es bleibt nicht nur bei politischen Auswirkungen. Und wir wissen ja, dass Deutschland als Bananenrepublik stark lobbybeeinflusst ist. Bei den Sanktionen, die Politiker gegen Russland in Stellung bringen, wird es Kollateralschäden für deutsche Unternehmen geben. Ein Teil von deren Investitionen geht den Bach runter. Für diese erzwungenen Opfer müssten sie möglicherweise entschädigt werden. Ich bezweifle, dass viele Politiker die Folgen ihrer Sanktionsideen oder fremdinitiierte Ideen (gerade aus USA), an denen Deutschland sich beteiligen soll, abschätzen können.
In den touristischen Fachmagazinen werden die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in bestimmten Ländern diskutiert. Von der Nichtbereisbarkeit Ägyptens profitierten Spanien und Türkei. Von der Krise in Griechenland und auf Zypern profitierte ebenfalls Spanien. Es gibt Konkurrenzen unter den Ländern um Touristen. Konkurrenz der Länder aber nicht nur im Touristiksektor. Auch in anderen Wirtschaftsbranchen.
Man müsste sich diejenigen genauer ansehen, die Propaganda für Boykotts machen. Zur Inspektion deutscher Parlamentarier empfehle ich www.abgeordnetenwatch.de, um zu verstehen, was sie dazu verleitet. Dass jemand öffentlich bekannt ist, ist für mich kein Argument, Vertrauen in Sachverstand und Rechtstreue (Beachtung der Verfassungsprinzipien) jener Person zu haben. Lügen und Halbwahrheiten gehören zum politischen Geschäft, und zum Mediengeschäft.
Ich halte mich für von Tageszeitungen oder ZDF verhältnismäßig wenig manipulierbar (Wer kann sich den Einflussnahmen der Medien schon entziehen. Die wirken auch auf den Familien- und Freundeskreis ein, direkt oder indirekt über deren Kollegen.).
Viele Berichte und Beiträge über Russland sind inhaltsarm, stark persönlich gefärbt, schlecht recherchiert oder geprüft und einseitig. Journalisten verstehen häufig von der Materie, zu der sie was zu schreiben haben, nichts. Man hat das bei den Winterspielen z.B. im Bereich Sport gemerkt. Siehe hierzu die Glosse des Psychologen Georg M. Sieber auf karriere-jura.de zu Sotschi (Link siehe unten).
Also wenn wir jetzt danach gehen würden, wie böse, menschenverachtend die Herrscher in bestimmten Ländern agieren (Assad, Lukaschenko, Nasarbajew usw), dann kommen einige beliebte Reiseländer nicht so gut weg. Nehmen wir China. Wie konnte man nur die Olympischen Sommerspiele 2008 nach Peking vergeben? Wo es viele Todesstrafen in China gibt, wo viele Menschen an Umweltverschmutzung sterben (auch wegen hoher Korruption)? Trotz Annektion des Tibets. Trotz Einschränkung der Rechte auf Meinungsfreiheit und Pressefreiheit?
In die Türkei zu reisen, kann ja auch nicht politisch korrekt sein. Erdogan ist kein Freund der Demokratie, sondern zeigt despotische Züge (brutales Vorgehen gegen Demonstranten in Istanbul im Winter 2013-2014, Internetblockade gegen Youtube und Twitter im Frühjahr 2014), wie Lukaschenko, oder nicht? Auch Israel als Reiseland dürfte Tabu sein.
Die Gründe dafür, warum einige Reiseländer bei einem Vergleich nach political correctness nicht gut wegkommen, werden in den Medien nicht so ausführlich behandelt. Viele Menschen suchen die Schuld immer beim anderen. Viele zeigen mit dem Finger auf andere und hinterfragen nicht, wie ihr eigenes Tun auf Mitmenschen wirken, verbieten Gegenfragen. Entziehen sich Vergleichen. Argumentieren intransparent, schief.
So passiert das auch auf Ebene der Nationen. Es wird auf Russland mit dem Finger gezeigt und dabei vermisse ich häufig eine Darstellung, die die Interessen Russlands mit berücksichtigt. Nur wenige mahnten das bei uns an, z.B. der Vorsitzende des deutsch-russischen Forums, Matthias Platzeck (Brandenburgs Ministerpräsident von Juni 2002 bis August 2013). Auch in den USA gab es nur wenige, die das vermochten, z.B. in Interview-Sendungen von Larry [...Next]