Fast eine Milliarde Menschen weltweit können nach Angaben der Weltbank für ihr Essen nicht mehr als einen US-Dollar ausgeben, las ich im Focus-Heft 46/2008, S. 106. An eine gesunde Ernährung kann man da natürlich nicht mehr denken, konstatierten Forscher, die versuchten sich mit diesem einen Dollar einen Monat lang zu ernähren.
In St. Petersburg hatte ich vor ein paar Jahren, während ich eine Sprachschule besuchte, bei einer Familie gewohnt, die aus Tochter, Mutter und Großmutter besteht. Die zweite, ältere Tochter war nach Holland ausgewandert zu ihren Freund. Die Familie war mir als Gastgeber von der Sprachschule vermittelt worden. Ich aß mit Ihnen Frühstück und Abendbrot. Häufig gab es Mehlspeisen, mit Fett auf der Pfanne gebraten, dünne Suppen. Manchmal ein Salat bestehend aus Gurke und Tomate.
Vitamine von Obst und Gemüse waren rar. Dabei waren die Frauen schon jeden Tag auf dem Markt, wo es diese frisch gab. Leider verkauften sie an ihrem eigenen Stand nur wenig Textilien, an manchen Tagen gar nichts. Die Einnahmen, die sie durch mich hatten, wurden beiseite gelegt, z.B. für eine Reise nach Holland und für die Ausbildung der jüngeren Tochter, die 14 oder 15 war. Mit dem Essen war ich unzufrieden. Auch wollte ich nicht nur grünen Tee trinken, der schon mehrfach aufgebrüht worden war (Dass man grünen Tee unter Umständen auch dreimal aufbrühen kann, weiß ich.). Es war ein heißer Sommer. In meinem Zimmer 26 °C. Und ich musste gesund werden.
Erhöhte Krankheitsanfälligkeit in russischer Großstadt
Immer, wenn ich Russland besuchte in den letzten Jahren, bin ich bald krank geworden, bekam Halsschmerzen, Schnupfen und Husten, auch wenn Sommer war. Man schwitzt und in der Metro erzeugen die Untergrundbahnen Wind. Das Immunsystem ist geschwächt. Man braucht viel mehr Aufmerksamkeit, wenn man sich allein durch die Stadt bewegt. Die Luftverunreinigung ist enorm. Das Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist in St. Petersburg und Moskau stressiger als in Berlin. Einmal sind es die häufigen Verkehrsstaus, vor allem aber die vollen Busse. Ein Grund sind natürlich Sprachbarrieren. Polizisten (um noch einen Stressfaktor zu nennen) sah ich hier seltener als in meiner deutschen Heimat. Stressig empfindet man es schnell, wenn man von ihnen gestoppt wird und der Reisepass kontrolliert wird, ohne dass man ihnen irgendeinen speziellen Anlass geliefert hat. Sie suchen sich gezielt Ausländer bzw. solche, die wie Ausländer aussehen, aus. Das ist für sie erfolgversprechender, als darauf zu achten, ob die Leute bei rot den Newski überqueren ...
Vitaminmangel
Also die Vitamine im Essen meiner Gastgeber reichten mir nicht. Mich dürstete nach Frischem.
Meinen Gastgebern blieb das nicht verborgen, sie hatten mich auch gefragt, wie ich mich ernähre, zumal wenn ich keinen Appetit verspürte. Meine Reste bekam der rote bösartige Kater, der sich, obwohl er sich in mein Zimmer schlich und auf meine Sachen setzte und mich nicht an sie heranließ, trotzdem nichts daraus machte, sich, wenn ich in der Küche am kleinen Tisch an der Wand aß, vor mich hinzupflanzen und zu betteln. Aber die Frauen stellten nicht ihre Essgewohnheiten um, machten für mich keine Extrawurst. Mir war es auch peinlich, von Ihnen zu verlangen, dass der Tisch so gedeckt wurde, wie ich es von zu Hause aus gewohnt bin.
Wenn Früchte gekauft wurden, dann vor allem, um aus ihnen Marmelade oder Konfitüre (Warenje) zu kochen, die möglichst bis zur nächsten warmen Jahreszeit reichen soll, wenn der Sommer vorbei ist und alle verfügbaren Gläser verbraucht sind. Die Konfitüre wird dann auf dem Balkon gelagert, der, mit Fenstern versehen, außer als Wäschetrockenplatz auch als Lebensmittel-Vorratskammer dient. Dass ist typisch für eine Wohnung im "Neubau".
Und so brachte ich öfters Vitamine vom Markt in der Nähe der Metrostation im Stadtteil, in dem ich wohnte, zum Sofortverzehr mit zu meinen Gastgebern: Erdbeeren, rote Johannisbeeren, Aprikosen, Äpfel, Petersilie für den Salat. Für das Frühstück kaufte ich Müsli und Milch. - Die Mutter hatte für Müsli erst nichts übrig, probierte aber davon und ich erklärte ihr, wie gesund das ist.
Als ich im nächsten Sommer nochmal bei Ihnen zu Gast war, sagte mir die Mutter, dass Müsli jetzt ab und zu auf ihrem Frühstückstisch stehe und es ihr gut schmeckt.
Gewagte These
Dass so viele russische Frauen im reiferen Alter so dick sind, liegt, meine Theorie, eben daran, dass sie sich zu fettreich und kalorienreich ernähren, weil gesunde kalorienarme Nahrung zu teuer ist. Ach so - warum nur die Frauen? Vielleicht achte ich bei den Männern weniger darauf. Jedenfalls war für mich immer wieder der Unterschied zwischen jungen und älteren Frauen, was den Hüftumfang betrifft, auffälliger als in meiner Heimat Deutschland. Es ist nur so ein Eindruck.
Wenn an dieser Wahrnehmung etwas richtig sein sollte (Wer will das überprüfen?), liegt es vielleicht daran, dass sich die ungesunde Ernährungsweise erst nach vielen Jahren auszahlt, wenn die Kinder geboren sind und zur Schule gehen. Je älter man wird, desto weniger körperliche Bewegung?! ... desto mehr entschwindet das Bedürfnis, sich attraktiv für Männer zu halten oder entschwindet die Hoffnung, (wieder) einen attraktiven Mann zu finden?! Mit der durch gewachsene Lebenserfahrung zunehmenden Resignation in breiten Bevölkerungskreisen wird wohl auch die Selbstdisziplin schwächer, sich gesund zu halten. Ein den Russen von außen wohl häufig zuerkannter Zug ist deren Melancholie. Diese harmoniert, meine ich, ganz gut mit Resignation oder ist letztere eine Folge der ersten.
Also wenn Sie in einer Familie zu Gast sind und ihnen fällt auf, dass Vitamine rar sind, können Sie Ihren Gastgebern anstatt Pralinen auch frisches Obst und Gemüse mitbringen und ihnen zeigen, wie Sie diese zu Hause in Deutschland, Österreich oder der Schweiz in Ihrer Küche zubereiten. Machen Sie doch mal Ihren Haussalat! Die Gastgeber werden sich über diese Abwechslung freuen. Sie wollen doch auch was von Ihnen lernen. Und Russen lieben auch Salate, z.B. Olivensalat (olivje) oder Heringssalat (Seld pod Schuboi). Grüne Salate müssen aber vielen noch schmackhaft gemacht werden, mit interessanten Dressings und bunten Beigaben wie Mais, Kidneybohnen und Nüssen.
Was verbreiteter als bei uns am Mittags- oder Abendtisch ist: wenn es warmes Essen gibt, dann wird doch Brot trotzdem immer noch dazu gestellt, auch wenn es schon Beilagen wie Kartoffeln oder Reis auf dem Teller mit Fleisch und Gemüse gibt.
Ein sehr geliebtes Naturprodukt ist der Honig (Mjod).
Noch ein paar Worte zu Salaten
Was mich in Sotschi bei meinem Besuch etwas enttäuscht hat, ist, dass ich dort kaum grünen Salat zu kaufen gesehen habe. Ich dachte, hier gedeiht doch so ziemlich alles. Kräuter gibt es reichlich, ja, aber die Salatarten, die wir in Deutschland gerne essen, sind rar, also: Kopfsalat, Eisbergsalat, Endiviensalat, Friseesalat, Eichblattsalat, Lollo Rosso, Radiccio oder neuerdings Romana-Salat. Endiviensalat gab es manchmal, aber nicht als ganzen Salatkopf, sondern einzelne Blätter waren mit Gummi zusammengebunden, im ganzen viel weniger Masse als ein ganzer Salatkopf üblicherweise hat. Damit ist natürlich auch klar, dass sie schneller verderben.
Solche Blattsalate sind wohl eben typisch deutsch. Oder? Auf dem russischen Abendbrottisch stehen gewöhnlich Gurken, Tomaten, Radieschen, gern auch Schnittlauch, in ganzer Länge, den man in die Hand nimmt und so einfach dazu isst, und Oliven. Gemischte Salate bestehen häufig aus Gurken und Tomaten. Freilich gibt es in Russland auch viele verschiedene Salatrezepte. Aber eben gewöhnlich ohne die eben genannten Blattsalate oder Kopfsalate.
So sind jedenfalls meine Erfahrungen. Wer machte andere?
Aber betonen möchte ich schon: Wenn Sie als Freunde privat zu Gast sind, tischt Ihr Gastgeber, Ihre Gastgeberin reichlich auf, und vom Besten, was da ist. Und hoffentlich haben Sie dann auch Hunger und Appetit.
Kerniges
Russen haben natürlich auch gesunde Essgewohnheiten, die bei uns nicht so verbreitet sind.
Häufig sieht man Einwohner, die während ihres Spaziergangs im Park, auf der Flaniermeile, am Strand oder im Kino auf Kernen kauen. Besonders verbreitet sind
Sonnenblumenkerne. Sie sind leicht an der Straße von alten Frauen zu bekommen, die sie in selbstgemachten Papiertüten (aus Zeitungen) verkaufen, ob nun in Moskau, St. Petersburg (an den Brücken, Schlössern und Parks, vor Lebensmitteldiscountern) oder Rostow und Sotschi. Selbstverständlich sind sie von russischen Gärten oder Sonnenblumenfeldern. Ich habe diese Angewohnheit des Kerneknabberns während meiner Reisen nicht übernommen, fand aber die „Kubanskie
Semetschki, objarennuie“ nicht übel, also geröstete Sonnenblumenkerne aus dem Kuban. Die werden im Supermarkt in Tüten wie bei uns das Studentenfutter zu vielleicht 75 Gramm verkauft. Ich esse bei den meisten die Schale mit. Viele Russen sind aber damit beschäftigt, diese abzumachen.
Schwieriger wird es, Pinienkerne von ihrer Schale zu befreien. Den Pinienkernen vom Altai werden besondere Kräfte nachgesagt. An einem Stand des Altais auf der ITB 2007 konnten Besucher sich aus einer Schale bedienen. - Die Kerne sind so fest, dass man die Schale erst mit den Zähnen knacken muss. Dann muss man sie mit den Fingern abpellen. Das ist viel Fummelei für so einen kleinen Samenkern. Man schmeckt ihn kaum. Es müsste sie abgepackt geben, bereits ohne Schale. Die Chinesen kaufen große Mengen von diesen Kernen aus dem Altai auf. Gut möglich, dass es sie schon lange in russischen Lebensmittelläden in Deutschland gibt. Ich hörte von ihren gesundheitlichen bzw. potenzsteigernden Wirkungen erst vor zirka 4 Jahren. Da fand ich auf die Schnelle nur ein oder zwei Webshops in Deutschland, bei denen man sie bestellen konnte.
Ergänzung, 29.02.2012: Auf der Grünen Woche im Januar 2012 fand ich einen Stand eines russischen Geschäftsführers und der Inhaberin eines Unternehmens, das Pinienkerne verkauft. Ich durfte wieder welche probieren. Diese waren schon gepellt. Der Mann erzählte mir, dass die Kerne ja nicht bloß von Chinesen gekauft werden, sondern auch geklaut werden. Sie kommen über die Grenze und ernten selbst die Kerne von den Bäumen.
Neben den beliebten Sonnenblumenkernen werden in Sotschi am Strand, am Hafen oder am Kurortnui Prospekt, natürlich erst recht am Markt vor dem Bahnhof bzw. [...Next]