Wer häufig allein ins Ausland außerhalb Zentral- und Westeuropas reist, hat wahrscheinlich schon Situationen durchlitten, in denen die ganze Reise oder die eigene Gesundheit auf dem Spiel steht; Situationen, in denen das eigene Wohl und Wehe von der Entscheidung einer fremden Person abhing.
Wie kann man die Chancen auf einen Erfolg seiner Reise, also auch auf die Vermeidung solcher Abhängigkeiten erhöhen?
Diese Frage kam mir vor ein paar Tagen, als ein Bekannter so ein Erlebnis der Aufgeschmissenheit erzählte:
Er hatte einen Flug aus Frankfurt am Main nach Kabul gebucht. Dazu muss man wissen, dass er Afghane ist, aber in Deutschland studiert und gearbeitet hat, hier mit seiner Familie lebt und gut deutsch spricht. Er musste am Abflugtag aus Berlin anreisen. Mit der S-Bahn in Berlin kam er verspätet in dem Bahnhof an, von dem aus der ICE nach Frankfurt fuhr. Seine S-Bahn hatte sich mehr als nur unwesentlich verspätet. Als er den Bahnsteig mit seinem
Gepäck erreicht hatte, stand sein ICE noch da, aber die Türen waren verschlossen. Sie ließen sich nicht mehr öffnen. Er wandte sich an die Schaffnerin oder Bahnsteigverantwortliche, die die Kelle in der Hand haltend nahe an der Treppe stand. Er bat sie, ihm die Tür zu öffnen. Er müsse unbedingt mitfahren, weil er sonst seinen Flug ab Frankfurt/Main verpassen würde, der 800 EUR gekostet hat.
Sie zeigte kein Erbarmen, antwortete ihm sinngemäß, er sei hier in Deutschland (vielleicht, das drängte sich ihm auf, mit der Aussage: ... und da muss man eben pünktlich sein, nicht so wie in dem Land, in das er jetzt reisen will). Er entgegnete, aber wenn der Zug doch noch nicht losfahren dürfe, dann könne sie ihn doch auch noch schnell hinein lassen, das wäre doch keine Verzögerung. Aber sie blieb hart, verwies ihn an den Service Point, wenn er sich das Geld für die Bahnkarte erstatten lassen möchte.
Der Zug fuhr ohne ihn. Er suchte noch nach Alternativen an einer Internet-Station im Bahnhofsgebäude. [Berichtigung: (21. August 09) Ihm ist noch eine andere Verbindung mit mehrmaligem Umsteigen gezeigt worden. Danach sollte er etwa eine Stunde vor Abflug ankommen. Er ging dieses Risiko ein und kaufte die entsprechende Fahrkarte - und hatte Glück. Der Abflug seiner Maschine hatte sich verzögert. - Wegen des ihm entstandenen Schadens hatte er sich an die Bahn gewandt und schließlich auch die Kosten des ICE-Tickets nach Rückkehr aus Afghanistan erstattet bekommen.]
Wir wissen es nicht, ob das tragende Motiv für die Verweigerung der Bahnfrau auf dem Bahnsteig hier Ausländerfeindlichkeit war oder die Angst vor persönlichen Konsequenzen wegen des Verstoßes gegen eine Dienstvorschrift (Wir kennen nicht die Vorschriften für den Ablauf der Abfertigung eines ICE.). Oder ob es ein blinder Racheakt gegen den ersten Besten (Schwachen) wegen eines selbst gerade erfahrenen Unrechts, die Entladung einer inneren angestauten Spannung war. Oder wegen auszustehender Ängste um einen Angehörigen, der in Afghanistan als Soldat die deutschen Interessen vertritt...
Derlei einschneidende Erlebnisse der Ohnmacht gegenüber der (vielleicht sogar nur punktuell, in einem besonderen Augenblick bestehenden) Macht eines fremden Menschen, die dieser gegen uns richtet und die uns großen Schaden, großes Leid zufügt oder zuzufügen droht, zieht uns plötzlich den Boden unter unseren Füßen weg. Man fühlt sich in seiner Existenz in Frage gestellt.
Fallen Ihnen eigene Beispiele ein?
In Russland fühlte ich mich mehrfach ohnmächtig, suchte jemandes zu fassen, der mich rettet. Ich sah mich in St. Petersburg gegenüber vereinzelten Bürgern dort auch mal in der Sippenhaft für den Tod von Angehörigen während der langen Blockade Petersburgs durch die Wehrmacht. Doch solche Leute konnten mir nicht schaden.
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Mit zwei Freundinnen unterhielt ich mich den letzten Sonntag beim Brunch an der Spree. Wir tauschten Reiseerlebnisse aus. Die eine erzählte ihre Erfahrungen in Nordafrika. Sie war da auch in solchen Situationen des Unwohlseins, des Argwohns, was mit ihr passieren werde, als sie von einem so gut wie fremden Einwohner eingeladen wurde auf eine Fahrt mit seinem PKW ins Ungewisse, am Rande der Stadt. Er wollte es ihr nicht gleich erzählen. Es sollte eine Überraschung sein - Er brachte sie zu einer Hochzeitsfeier, wie sie sie noch nie erlebt hat (und wohl nicht mehr erleben wird). Es wurde für sie ein unvergesslich schönes Erlebnis. Diese Gastfreundschaft und Herzlichkeit ...
Ich erinnere mich hierbei an ein Erlebnis in der Vorweihnachtszeit Mitte der Neunziger, das auf dem Vorplatz vor der Kirche der Kleinstadt San Nicolas im Westen Gran Canarias an einem milden Abend so gegen Halbzehn begann. Ich war am frühen Abend mit dem Bus aus Puerto Mogan angereist und gerade auf kleiner Exkursionsrunde durch das Zentrum. Hier trafen sich die Einwohner zum Plauschen, Kinder spielten. Da waren auch zwei Mädchen im Studentenalter, mit denen ich ins Gespräch kam. Beide waren hier am Ort für ein paar Wochen, um mit Tomatenpflücken Geld zu verdienen. Der nächste Tag sollte ihr letzter sein und sie würden dann heim fahren zu einer weiter nördlich gelegenen Stadt auf der Insel (Galdar) und dort mit Freunden in einem Garten feiern. Sie luden mich ein. Ich sollte abends auf dem Kirchvorplatz in jener Stadt sein. So kam es - nach zwei Stunden des Wartens wurde ich abgeholt, kam auch noch mit ins Haus des einen Mädchens, deren Schwester Rita da war (Eltern waren ausgegangen) und wir wurden abgeholt und fuhren zu fünft eine schlechte Straße hinauf, mit Blick auf die Stadt
im Laternenmeer. Es war ein tolles Erlebnis. Es waren mehr als ein Dutzend junger Leute da. Als Überraschungsgast gab es für mich keine Langeweile. Einer der Männer (Polizist von Beruf) zog mich immer mit "El Russo" auf, nur weil ich aus Ostdeutschland war. Aber Rita nahm mich in Schutz. Für den Cachaca wurden die Maracujas direkt vom Baum im Garten gepflückt.
Ich hatte keine Unterkunft und wurde an den Strand in einer kleinen Bucht gebracht, in der die brandenden Wellen hoch aufschäumten, als die Sonne schon lange aufgegangen war. Im Schlafsack versuchte ich mich vor den Sonnenstrahlen zu verstecken; es kamen drei Angler vorbei und ich lag wehrlos in meinem Schlafsack, den großen Rucksack neben mir. Sie ließen mich aber links liegen. Was sollte ich mit der leichten Dröhnung auch jetzt schon machen, ohne Plan? Für den Abend war ich wieder zu einer Party eingeladen worden, an anderer Stelle. - Ich ließ mir nur die Sonne auf den Kopf scheinen und den Wind um die Nase blasen, als ich auf dem höchsten Punkt des Hügels der nahen kleinen Halbinsel Faro etwas las und wartete, bis der Abend kam. - Da gab es ein Bufet mit den typischen Delikatessen der Insel wie kleine Kartoffeln mit Mocho. Von attraktiven Mädchen aufgefordert, tanzten wir nach Gloria Estefan. Und die ruhige Rita mit den Mandelaugen und mit der herzlichen Ausstrahlung war auch da. Wegen ihr blieb ich in dieser Stadt noch einige Tage hängen.
Warum habe ich das erzählt, obwohl ich anfangs doch über Ohnmacht schrieb? - In einer Reisegruppe sind derlei unmittelbaren, unverfälschten Feiern nur selten erlebbar, wo man seine Heimat nicht ganz zurücklassen kann, wenn da noch Landsleute zugegen sind und so eine Gruppe von Touristen von einer Familie, einem Freundeskreis ad hoc nicht assimiliert werden kann, ohne eine Veranstaltung innerhalb der Familie/des Freundeskreises zu verfälschen (entfremden?). Das sind Beispiele dafür, warum ich gern allein reise.
Aber für diese Reiseform ist längst nicht jeder vorherbestimmt. Dazu gehört für mich, neben der Vorbereitung zu Hause (intensiver als bei Pauschalreisen, die mir ein Reiseveranstalter zusammen gestellt hat), Reiseführer und Landkarte die Fähigkeit, in fremder Umgebung zugleich vieles um sich herum wahrnehmen zu können, für längere Zeit konzentriert bleiben zu können, Aufmerksamkeit, Wachheit, Offenheit, Instinkt. Und so weiter: die Fähigkeit, sich auf Fremdes einzulassen mit der Erfahrung, dass in der Fremde andere Regeln der Kommunikation gelten als wir sie kennen, die Lust und Bereitschaft, zu spielen, aber auch wieder die Intuition dafür, wann ich einen Einsatz mache, etwas riskiere, um ein Mehrfaches gewinnen zu können.
"Risks must be taken. Because the greatest hazard in life is to risk nothing. The person who risks nothing does nothing, has nothig, is nothing. He may avoid suffering and sorrow. But he simply cannot learn, feel, change, grow, love, live. Chained by his certitudes he is a slave. He has forfeited freedom; only a person who risks is free."
Das ist ein Ausschnitt aus einer Lebensweisheit von William Arthur Ward, die ich am Kühlschrank meiner Gastgeberin früher in Spokane (Kanada, Washington State) fand.
Ich fragte meine Freundinnen, ob Ihnen was dazu, wie man so eine Ohnmacht, Situationen der totalen Hilflosigkeit im Ausland vermeiden kann, was einfällt.
Sie sind nicht auszuschließen, wenn man sich zum Individualtourismus bekennt, sind wir uns einig. Es lassen sich aber doch Fallgruppen erhöhter Gefahren zusammen tragen. Wer eine bestimmte Reise beabsichtigt, kann sich solche Fallsammlungen beschaffen (allgemein: Survival-Buch, spezieller: Beispiel für Landestypika: Scotland for backpackers - Der praktische Reiseführer für Leute mit (eigenem) Köpfchen, Reel Publishing Edinghburg, ISBN 0-9524913-4-6) half mir in Schottland) und überlegen, welche konkret relevant sind oder werden können und sich überlegen, wie er ihnen begegnen will. Überlegen Sie sich in Ruhe, welche Risiken Sie bereit sind, auf sich zu nehmen für die Aussicht auf bestimmte Erlebnisse, Abenteuer! Halten Sie sich Plan B vor! Machen Sie sich kleine Checklisten, die sie leicht immer bei sich führen können! Führen Sie immer was zum Aufschreiben mit!
Auf einige Gefahrenquellen habe ich in diesem Blog schon hingewiesen. Bahnhöfe, Spielhöllen, Neubaugebiete, wenn es dunkel wird, ...
Überhaupt - und jetzt bin ich bei den Tipps gegen Ohnmacht: Um Situationen zu vermeiden, denen Sie hilflos ausgeliefert sind:
Halten Sie möglichst immer Verbindung zur Öffentlichkeit! Lassen Sie sich nicht weglocken in Ecken und Gegenden, in denen Ihnen niemand zur Hilfe kommen kann! Sie müssen sich Fluchtwege offen halten oder den Zugang zur Hilfe anderer.
Kleiden Sie sich unauffällig! Na gut, wenn sie schon aufgrund des Unterschieds ihres Teints, der Haar- und Augenfarbe auffallen, dann seien Sie darauf vorbereitet, dass man von Ihnen Preise verlangt, die deutlich höher sind als für Einheimische!
Gut,wenn Sie Kaufverhandlungen einem Einheimischen, der für Sie da ist, überlassen können. In Russland braucht man viel öfter einen Einheimischen als Guide als wenn man in ein EU-Land reist. Das ist eben so. Sie fahren hier besser auch nicht selbst Auto, sondern lassen sich chauffieren. Sie wissen dann natürlich schon um die Problematik Schwarztaxi Bescheid!? Und lassen Sie sich nicht von einem Taxifahrer am Flughafen [...Next]