Reisebericht von Christoph Steinert – Sibirien 2015/2016, Teil 1
Christoph hatte schon einmal einen Reisebericht für Ost im Puls geschrieben. Jetzt befindet er sich in Sibirien und wird in mehreren Teilen über seine Erlebnisse berichten. Den ersten Teil hier hat er mir Mitte September zugeschickt. Brauchte etwas Zeit zum Redigieren und Fotos bearbeiten.
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Es ist Mitte September 2015. Die Blätter der altaiischen Birken färben sich schon. Die erste Nacht mit Frost kündigt sich an. Nach einem Jahr als Sprachassistent des DAAD in Belarus bis Ende Juni 2015 und einem kurzen Sommer zu Hause in Deutschland nun Sibirien.
Für Generationen von Kriminellen, Kriegsgefangenen und unliebsamen Künstlern bedeutete das immer nur eins: Exil! Verbannung.
Für mich ist es ein Abenteuer. Sibirien! Da muss man mal gewesen sein. Dieser so geheimnisvolle „Landstrich“ erweckt die Fantasie des biederen Deutschen: Wälder, Seen, Berge, klare saubere Luft, nette Leute, sowjetische Repressionen.
Wenn man für eine längere Zeit nach Russland gehen will, um die Sprache zu perfektionieren und Land und Leute kennen zu lernen oder von Deutschland mal eine Auszeit zu nehmen, sollte man sich an deutsche Nichtregierungsorganisationen (NGO) halten, die in Russland sind, z.B. DAAD, Bosch und Goethe-Institut. Der DAAD hat gerade großen Bedarf an Assistenten und Lektoren für Russland und Belarus, da anscheinend im Moment keiner wirklich hin will.
Im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung arbeite ich jetzt ein Jahr als Deutschlehrer in Gorno-Altaisk. Klar, das sind jetzt böhmische Dörfer. Ich musste auch erstmal auf der Landkarte nachsehen, wo das genau liegt.
Gorno-Altaisk ist die Hauptstadt der autonomen Republik Altai in Südsibirien, zirka. 400 Kilometer südlich von Nowosibirsk im Vierländereck Russland – Kasachstan – China - Mongolei. Vier Stunden Zeitunterschied zu Deutschland (3 Stunden zu Moskau), im Winter sogar fünf. Eine Stadt mit zirka 60.000 Einwohnern. Für mich als Leipziger ein winziges Nest. Es gibt einen Nachtklub, 4.000 Studenten und wenn man sich von der ewig langen Hauptstraße, dem Prospekt Kommunistitschesky entfernt, landet man sofort in Gegenden, die sich seit 100 Jahren wohl nur minimal verändert haben. Holzhäuser, Straßen ohne Asphalt, sogar grasende Kühe auf dem Campus der hiesigen Universität. Aber alles der Reihe nach.
Anreise
Am 24. August 2015 fiel der Startschuss für meine Reise. Mit dem Zug fuhr ich von Leipzig nach Berlin, mit dem TXL-Bus zum Flughafen Tegel. Am Gepäckschalter des Flughafens traf ich einen Kollegen der Bosch-Stiftung, der wie ich auch für ein Jahr nach Russland geht. Ihm hat man eine Stelle in Wladiwostok angeboten, die hatte er angenommen.
Die Schlange am Flugabfertigungsschalter von Air Berlin war ewig lang. Mein Kollege musste noch sein Übergepäck bezahlen, genau wie ich nach ihm. Ein einziges Hin und Her. Ich reise mit zwei großen Koffern und einem Rucksack, soviel wie noch nie zuvor. Einen Koffer darf man gleich an der Gepäckabfertigung abgeben. Mit dem anderen rennt man durch die Massen von Passagieren und deren Angehörigen zur Kasse. „Nein, hier sind Sie falsch. Sie müssen an die Kasse nebenan“, wurde mir von einer mürrischen Frau mitgeteilt. Mein Kollege, der mittlerweile auf mein restliches Hab und Gut aufpasste, gab mir Handzeichen, dass das doch die richtige Kasse ist. Letztendlich konnte ich diese Dame überzeugen, dass ich bei ihr an der richtigen Adresse bin. Dann ging es zur Passkontrolle. Mein Kollege und ich wurden zur Stichprobe herausgefischt. Mein Kollege wird von dem Kontrolleur angefahren, wie denn sein Reisepass aussieht. Mit ihm ist er schon durch halb Russland gereist. Klar, dass da Gebrauchsspuren zu sehen sind.
Überhaupt ist die Passkontrolle so ein potentieller Punkt für Ärger. Es kommt immer auf den Kontrolleur an. Egal ob russischer, deutscher, amerikanischer „Pogranitschnik“ 1 wenn diese Person einen schlechten Tag hat, lässt er das zu 80 % an Dir aus. Ein Beispiel:
Vor einigen Jahren hatte ich Freunde in Sotschi besucht. Die sind sehr fürsorglich und haben einfach mal meine Hosen gewaschen. Leider steckte da aber noch der Reisepass drin. Nun hat der deutsche Reisepass den Vorteil, dass die wichtigen Daten eingeschweißt sind. Trotzdem sah er hinterher entsprechend mitgenommen aus. Als ich in Moskau ankam, warf die Kontrolleurin, eine stramme russische Frau, einen entrüsteten Blick auf meinen Reisepass, dann auf mich. Ganz ruhig fragt sie, ob ich der russischen Sprache mächtig bin. Ich zuckte mit den Schultern und nickte. Dann legte sie los: Es ist in der Russischen Föderation nicht üblich, mit einem Dokument in einem solchen Zustand zu reisen, was ich mir denn einbilde, bla bla bla. Nun, der genaue Wortlaut ist mit über die Jahre entfallen. Interessant war der Kontrast dazu in Deutschland: Die deutschen Passkontrolleure hatten bei meiner Ankunft in Berlin nur ein müdes Lächeln übrig und meinten trocken: "Na, mitgewaschen wa?"
Zurück zum Flughafen Tegel: Jedenfalls waren wir endlich durch die Kontrolle gekommen und verstauten unser Handgepäck über den Sitzen unseres Flugzeuges nach Moskau. Als ich meinen Sitzplatz hier erreichte, stand da mein Sitznachbar, der hektisch in seinen Unterlagen wühlte. Geduldig wartete ich, bis er sich setzt. Er bedankte sich höflich dafür. In Deutschland ist geduldiges Warten ja nicht selbstverständlich. Alles muss immer schnell schnell gehen. So kamen wir dann ins Gespräch. Er ist Schauspieler und fliegt gerade zu seiner nächsten Arbeitsstelle, zu einem Dreh nach Russland, stellt er sich vor. Es stellte sich sogar heraus, dass er in einem russischen Film mitgespielt hat, den ich gesehen habe; zwar nur eine Nebenrolle, aber immerhin. Anschließend gingen wir zusammen seinen Text für seine Rolle durch, ....auf Russisch.
Darum liebe ich das Reisen. Man trifft Leute, die man sonst nie treffen würde, lebte man sein ganzes Leben nur in seiner Stadt. Diese Leute sind zwar komplett anders als man selbst, aber dadurch auch eine Bereicherung. Neue Blickwinkel eröffnen sich, eigene Sichtweisen können revidiert oder erweitert werden.
In Moskau auf dem Flughafen Domodedowo angekommen verabschiedete sich mein Nachbar und meinte noch, hier muss man schnell sein. Er meinte die Passkontrolle: An den Schaltern bilden sich nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug und Erreichen des Gebäudes immer sofort lange Schlangen. Ich hatte aber keine Eile. Es war noch früher Nachmittag. Mein Anschlussflug mit der russischen Fluggesellschaft S7 (Partner von Air Berlin) sollte erst um 00.45 Uhr losgehen. Mein Kollege sollte gegen 19 Uhr nach Wladiwostok weiterfliegen. Also noch genug Zeit sich ein zwei Bierchen zu gönnen und mit ihm zu bequatschen, was auf uns in den nächsten Monaten zukommen mag. In Russland gehört Bier wie selbstverständlich ins Sortiment von Burger King.
Nach Moskau gibt es auch einen Flug direkt von Leipzig, aber dann zum Flughafen Wnukowo. Aber nach Gorno fliegt man nur von Domodedowo.
Wir holten uns dann noch Bargeld. Seit der Krise im Dezember 2014, als der Rubel fiel, sind die Abhebesummen begrenzt. 9.000 Rubel waren das Maximum. Aber dafür lohnte es sich: 80 Rubel für einen Euro, das gab es lange nicht.
Den Abend verbrachte ich damit, Filme auf dem Laptop anzuschauen. Eine Mitarbeiterin des Flughafens ermahnte mich, ich solle mich in die Wartehalle setzen. Ich saß nämlich irgendwo am Rand der Halle auf dem Boden. Ich glaube, in Deutschland kümmert es niemanden, wo man genau wartet. Strenges Regime eben, nach wie vor.
Gegen 01.00 Uhr nachts Moskauer Zeit hoben wir endlich vom Boden ab. Vier Stunden fliegt man bis Gorno Altaisk. Gott sei Dank hat Gorno einen Flughafen. Die kleine Stadt mausert sich gerade zu einem Touristezentrum. Die Stadt hat aber, was für Städte mit Flughafen (in Deutschland jedenfalls) eher ungewöhnlich ist, keinen Bahnhof.
Es war also mitten in der Nacht und ich hoffte etwas Schlaf in diesem Flieger nach Sibirien, einem Airbus 320 oder 321, zu finden. Fehlanzeige! Das Licht blieb nach wie vor angeschaltet und andauernd liefen Leute durch das Flugzeug. Ich dachte: „Sind die denn nicht müde?“ und legte mir eine Decke auf mein Gesicht und versuchte den Trubel zu ignorieren.
Gegen 8 Uhr Ortszeit (4 h Flug + 3 h Zeitverschiebung) erreichten wir den Altai. Im Flughafengebäude traf noch kurz meine Vorgängerin. Wir wechselten ein paar Worte. Dann brachte mich mein Chef, Iwan, mit seinem Auto zum Wohnheim, in dem ich wohnen sollte; kostenlos, versteht sich. Iwan ist für einen Lehrstuhlleiter mit seinen 30 Jahren noch recht jung, aber ganz in Ordnung. Er teilte mir nebenbei mit, dass die Studenten erst im Oktober kommen werden, denn das eine von zwei Wohnheimen werde gerade renoviert. Ich dachte: „Puh! Einen Monat nichts tun oder wie? Na super!“
Von der Stadt bekam ich auf der Fahrt vom Flughafen nicht so viel mit. Ich war hundemüde. Ich bezog mein Zimmer und schlief sofort ein.
Die Woche nach meiner Ankunft
Wie genau die erste Woche ablief weiß ich gar nicht mehr so genau zu sagen. Es war wohl eine Mischung aus leichtem Jet Lag und langen Spaziergängen, um die Stadt zu erkunden. Das Wetter war noch recht sommerlich und sonnig. Ich bestieg einen Berg. Es gibt rund um die Stadt viele Berge, allerdings nicht so hoch wie der von mir bestiegene. Der ist 650 Meter hoch.
Im internationalen Büro der Uni sagte man mir, dass nebenan eine belgische Studentin gerade ihre Masterarbeit schreibt. Wahnsinn! Westler, in meinem Wohnheim! Am Nachmittag klopfe ich also an die Nachbartür. Ein Mädel öffnet, schulterlange braune Haare, braune Knopfaugen, vielleicht Anfang Mitte 20. Ich begrüße sie auf Russisch, aber nach wenigen Sekunden sind wir automatisch bei Englisch angekommen. Schade. Ihr Freund ist gerade zu Besuch. Ein freundlicher Petersburger, Vegetarier. Wir unterhalten uns bei einem Tee. Er ist nur für eine Woche da, in der sie noch reisen wollen. Reisen würde ich jetzt erstmal nur in die große Stadt zum Einkaufen. In den Läden meiner kleinen Stadt gibt es nicht alles zu kaufen, was der verwöhnte deutsche Öko gewohnt ist. Leinsamen gibt es nicht, dafür Sonnenblumenkerne (Semetschki). Als Bratöl kennt man ebenfalls nur Sonnenblume, abgepackt in Plastikflaschen. Von dem Zeug bekommt man Kopfschmerzen, ich jedenfalls. Zum Glück habe ich mir extra Kokosöl mitgebracht. Da kann man nichts falsch machen.
Jedenfalls hat auch die Belgierin erfahren, dass die Uni offiziell erst im Oktober losgeht. Also beschließt sie den Rest des September bei ihrem Freund in Piter 2 zu verbringen.
Am 1. September ist ein Feiertag in Russland, der "Djen znanij", also der Tag des Wissens. In Sibirien scheint jeder Anlass gelegen zu kommen, um Alkohol zu trinken. Es muss aber auch dabei gegessen werden. So versammeln sich also alle Dozenten in einem Auditorium und eröffnen ein Buffet aus belegten Brötchen, Tomaten, Gurken, Kuchen und natürlich Sekt sowie für die ganz harten Cognac. Die Uhr schlägt 12 Uhr mittags.
In den folgenden Tagen war nicht viel los. Ich schloss einen Handy-Vertrag ab, holte mir Internet und ging auf den Markt, um mir Äpfel zu kaufen. „1 kg bitte!“, sagte ich. Die Verkäuferin hatte an ihrem Stand keine Waage. Es standen nur diverse Eimer auf dem Tisch, bis zum Rand gefüllt mit Äpfeln. Sie nahm einen der Eimer und schüttete dessen Inhalt ohne viel Federnlesen in eine Plastiktüte, drückte sie mir in die Hand und meinte: „200 Rubel bitte!“ Ich guckte sie verblüfft an. Was soll ich denn mit einem ganzen Eimer Äpfel, wer soll das essen? Immerhin waren es Bio-Äpfel aus dem eigenen Garten. Am Nachmittag entschloss ich mich dazu Apfelmus zu [...Next]